Das Nichts nach dem Knall

Der Anschlag auf die JVA Weiterstadt war der letzte der RAF. Trotz immenser Zerstörung erzielte er nicht die geplante Wirkung

Das orangefarbene Warnschild war ungewöhnlich: »Knastsprengung in Kürze – Lebensgefahr sofort wegrennen«. Dazu das Logo der Roten Armee Fraktion, der rote Stern mit der Maschinenpistole und der Abkürzung RAF. Das Kommando passte auf, dass niemand zu Schaden kam. Diese Achtsamkeit war neu. Zwei Jahrzehnte war die Guerillagruppe für ihr skrupelloses Vorgehen berüchtigt. Mehrmals wurden bei Festnahmen Polizisten erschossen, und bei ihren Attentaten nahm sie den Tod von Begleitpersonen billigend in Kauf.

Am 27. März 1993 sprengte das RAF-Kommando Katharina Hammerschmidt mit rund 200 Kilogramm Sprengstoff den Gefängnisneubau im südhessischen Weiterstadt. Um ein Uhr in der Nacht erklommen mindestens drei Männer und eine Frau die 6,50 Meter hohe Gefängnismauer mit einer Strickleiter. Die Hölzer waren mit Teppich ummantelt, um den Trittschall zu dämpfen. Ermittler fanden später daran DNA-Spuren von Daniela Klette, Ernst-Volker Staub sowie weiteren Personen. Sie gehen davon aus, dass auch Burkhard Garweg sowie Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams an dem Überfall beteiligt waren. Alle Angreifenden hatten Maschinenpistolen dabei. Die Wachhabenden waren ahnungslos und wurden rasch überwältigt. Es dauerte dann recht lange, bis die Sprengladungen verlegt waren. Erst am frühen Samstagmorgen, um 5.12 Uhr detonierten sie und verwüsteten den Gefängnisneubau, der fünf Tage später eröffnet werden sollte. Der Schaden war immens; er wurde auf rund 123 Millionen D-Mark geschätzt. Ganze Trakte waren nur noch Ruinen. Der Anschlag war eine Demonstration der Stärke.

Was aber damals nicht abzusehen war: Es sollte der letzte Anschlag der RAF sein. Maßgeblich dazu beigetragen hat eine Initiative des damaligen Justizministers Klaus Kinkel. Der Liberale vertrat auf dem Dreikönigstreffen der FDP im Januar 1992 die Ansicht, dass »nach 20 Jahren schlimmer Ereignisse« auch der Staat zur Deeskalation mit der RAF beitragen und eine Bereitschaft zur Versöhnung haben müsse. Für Konservative war der Vorstoß ein Eklat. Der bayerische Innenminister Edmund Stoiber (CSU) nannte es unverantwortlich, eine Versöhnung mit Terroristen in Aussicht zu stellen. Doch Kinkel wählte seine Worte mit Bedacht. Er wollte eine Debatte anstoßen – auch über eine Milde im Strafvollzug und Entlassungen nach einer Mindesthaftzeit sollte nachgedacht werden. Mitglieder der RAF wurden in Haft oft isoliert und besonders überwacht. Eine Resozialisierung wurde vernachlässigt, vorzeitige Haftentlassungen gab es nicht.

Die RAF reagierte drei Monate später auf die Kinkel-Initiative und veröffentlichte im April 1992 eine Erklärung, die einer Zäsur gleichkam. Darin erklärte sie, künftig auf tödliche Gewalttaten zu verzichten. »Wir haben uns entschieden, dass wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen«, heißt es darin. Innerhalb der Linken wollte die Guerilla damit Raum schaffen für eine Diskussion über den Aufbau einer neuen »Gegenmacht von unten«. Wie diese aussehen konnte, blieb vage. Aber es war offensichtlich, dass die dritte Generation der RAF einen Weg zurück in die Gesellschaft suchte.

Innerhalb der Guerilla führte diese Initiative allerdings zu einem erbitterten Streit. Denn nicht alle trugen die erklärte Zäsur mit. Brigitte Mohnhaupt, Sprachrohr der meisten Inhaftierten, lehnte ihn ab und brach mit der Kommandoebene draußen. »Der Inhalt der Beziehung ist zerstört, eine andere Entscheidung als die Trennung nicht mehr möglich«, schrieb sie im Oktober 1992 in einem Brief, der in der »Taz« veröffentlicht wurde. »Wir haben den Endpunkt der Entwicklung in die politische Agonie erreicht, die 1992 damit anfing, dass die Grundlagen unserer Politik weggekippt wurden.« In der Waffenstillstandserklärung sah sie einen »Deal« mit Politikern, der dazu führen solle, »dass unser Leben und unser Kampf hinter unserem Rücken abgewickelt« werden sollten. Dem widersprach die Kommandoebene vehement, aber die Beziehung zwischen drinnen und draußen blieb gestört. Letztlich war es die Initiative des Justizministers, die diesen Konflikt entfacht hatte; sie wurde zu »einem Katalysator gruppeninterner Spaltungsprozesse«, wie die Historikerin Petra Terhoeven analysierte. Kinkel dürfte damit mehr erreicht haben, als er sich erhofft hatte.

Der Anschlag von Weiterstadt war ein Versuch, diesen internen Streit zu schlichten und die eigenen Reihen wieder zu schließen. Zugleich wollte das Kommando Druck aufzubauen, damit es endlich zu Zusammenlegungen und Hafterleichterungen kommt. »Wer heute schulterzuckend oder ohnmächtig akzeptiert, dass die Gefangenen weiter dieser Tortur unterworfen werden, weil er/sie denkt, dass unsere Seite dagegen zu schwach ist«, heißt es in einer Erklärung zum Anschlag. »Wie soll er/sie darauf hoffen können, dass wir in der Lage sind, eine Kraft aufzubauen, die die gesamten Verhältnisse umwälzen kann?« Auch wenn die Weltlage sich längst verändert hatte, die RAF hielt an einer Revolution fest, die sie gewaltsam erreichen wollte.

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Das Kommando in Weiterstadt benannte sich nach Katharina Hammerschmidt, eine Unterstützerin der ersten Generation. Sie war in der Haft an Krebs erkrankt und starb 1975 mit nur 31 Jahren, weil ihr eine angemessene ärztliche Behandlung nicht gewährt wurde. Das Land Berlin wurde daraufhin zu 5000 Mark Strafe verurteilt. Wer den Anschlag in Weiterstadt durchführte und in die Pläne eingeweiht war, ist nicht bekannt. Die Mutter von Birgit Hogefeld, die ebenso wie der Vater von Wolfgang Grams über Mittelspersonen im Briefkontakt mit den Untergetauchten stand, wusste von dem Vorhaben. Sie begrüßte den Anschlag.

Bei der Gefängnissprengung achtete das Kommando tunlichst darauf, die Zäsur vom April 1992 nicht zu torpedieren. Es überrumpelte die Wachleute im Dienst und weckte die Schlafenden. Elf Sicherheitskräfte wurden gefesselt und rund 600 Meter vom Gefängnis entfernt in einen Lieferwagen gesperrt. Erst nach der Detonation wurden sie befreit. Was das Kommando zu diesem für sie ungewöhnlichen Handeln bewogen hat, ist unklar. Ob es Kalkül war oder die Einsicht, dass eine mörderische Gewalt im »Widerspruch zum Denken und Fühlen« steckt, wie die RAF fünf Jahre später in ihrer Auflösungserklärung schreiben sollte, bleibt eine offene Frage.

RAF: Das Nichts nach dem Knall

Neun Menschen hatte die dritte Generation der RAF bis 1993 getötet. Keiner der Morde wurde je aufgeklärt. Bis heute ist nicht einmal bekannt, wer alles zur Kommandoebene gehörte, wann sie mit anderen Guerillagruppen zusammenarbeitete oder wer die Untergetauchten unterstützt hat. Diese RAF-Generation der 80er und 90er Jahre agierte professionell. Es gab kaum Anhaltspunkte für ihr Wirken, bei den Taten hinterließ sie so gut wie keine Spuren. Butz Peters, der mehrere Bücher über die RAF schrieb und jetzt – nach der Verhaftung von Daniela Klette – ein beliebter Gesprächspartner bei den Springer-Medien ist, nannte die dritte Generation eine »Blackbox«. Bis heute tappen die Ermittler im Dunklen.

So gut das Versteckspiel im Untergrund auch war, innerhalb der Linken hatte längst eine Entfremdung wegen der Kaltblütigkeit der Taten eingesetzt. Insbesondere der Mord am US-Soldaten Edward Pimental im August 1985 hatte viele abgeschreckt. Der 20-Jährige wurde von Birgit Hogefeld aus einer Disko in Wiesbaden mit der Aussicht auf eine Affäre gelockt; er wurde niedergeschlagen und dann von einer unbekannten Person erschossen. Das gemeinsame Kommando der RAF und der französischen Gruppe Action Directe wollte lediglich an dessen Truppenausweis für die Rhein-Main Airbase kommen, um ein Auto mit Sprengstoff aufs Gelände zu fahren. Die Bombe detonierte am Morgen des 8. August auf einem Parkplatz des US-Stützpunktes am Frankfurter Flughafen, riss zwei Personen in den Tod und verletzte 23 weitere. Der Anschlag sollte ein Protest gegen die Einsätze der US-Luftwaffe von ihrer Drehscheibe in Deutschland sein. Aber selbst ihr nahe stehende Personen waren entsetzt darüber, wie sehr ihre Hemmschwelle zum Töten gesunken war.

Mit dem Anschlagsziel in Weiterstadt ging die RAF jetzt einen Schritt auf das linksradikale Milieu zu. Schon länger gab es nämlich Demonstrationen gegen den Gefängnisneubau unweit von Darmstadt. Und die Resonanz auf die Sprengung war in diesen Kreisen durchaus positiv. »Schneller, höher, Weiterstadt, wir machen auch Olympia platt«, riefen Demonstrierende am 18. April 1993 in Berlin immer wieder. An diesem Tag zogen rund 15 000 Menschen durch die Hauptstadt, um gegen die Berliner Olympiabewerbung zu protestieren. Das »Wir« war in der autonomen Szene wieder da. Eine »klammheimliche Freude«, wie sie Sympathisanten der RAF in den 70er Jahren zugeschrieben wurde, verspürten viele bei der Gefängnissprengung.

Und doch sollte der Anschlag kein Ausweg aus ihrer Krise sein. Der Staat ließ sich bei der Gefangenenfrage weiterhin nicht erpressen. Zudem grassierte in Deutschland nach der Wiedervereinigung ein stumpfer Nationalismus – mit Pogromen wie in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda und vielen Dutzenden Toten durch rechte Gewalt. Diese thematisierte die RAF zwar in ihren Erklärungen, aber als Guerilla konnte sie auf den beunruhigenden Zeitgeist nicht einwirken.

Drei Monate nach dem Anschlag in Weiterstadt erlitt die RAF einen weiteren Tiefschlag. Am Bahnhof im mecklenburgischen Bad Kleinen stellte ein Sonderkommando der GSG9 die Untergetauchten Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld. Der Einsatz geriet aus dem Ruder. Es kam zu einer wilden Schießerei auf dem Bahnsteig. Im Kugelhagel starben schließlich Grams sowie der Polizist Michael Newrzella; Hogefeld wurde festgenommen. Ermittlern war es zuvor erstmals gelungen, den Verfassungsschutz-Spitzel Klaus Steinmetz an die Kommandoebene heranzuführen.

Die RAF war in einer Sackgasse. Der Fahndungsdruck blieb hoch, und es eröffneten sich ihr keine neuen Perspektiven. Aus dem Untergrund heraus konnte sie nichts dazu beitragen, eine Basisbewegung von unten aufzubauen, wie es ihr vorschwebte – und folgerichtig, wenn auch überraschend – löste sie sich 1998 auf. »Wir stehen zu unserer Geschichte«, heißt es in einer letzten Erklärung, die am 20. April bei der Nachrichtenagentur Reuters eingegangen war. »Die RAF war der revolutionäre Versuch einer Minderheit, entgegen der Tendenz dieser Gesellschaft, zur Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse beizutragen. Wir sind froh, Teil dieses Versuchs gewesen zu sein.« Das Schreiben erscheint geradezu trotzig und endet mit der Auflistung jener 26 Namen, die als Angehörige der RAF ihr Leben verloren. Als wollten sie sich selbst ein Kriegerdenkmal setzen. Über die 34 Opfer auf der Gegenseite verloren sie kein Wort. Die blieben ein Tabu. Bis zuletzt.

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