Rechte Gewalt: »Die Enthemmung ist deutlich spürbar«

Beratungsstellen in Nordrhein-Westfalen verzeichnen Rekordhoch bei neonazistischen Attacken

Teilnehmer*innen eines neonazistischen Aufmarsches im Dezember in Dortmund.
Teilnehmer*innen eines neonazistischen Aufmarsches im Dezember in Dortmund.

2024 verzeichnen die Beratungsstellen Opferberatung Rheinland (OBR) und BackUp aus Dortmund einen neuen Rekord: 526 Fälle von rechter, rassistischer, antisemitischer oder anderweitig menschenfeindlicher Gewalt wurden dokumentiert – ein Anstieg um rund 48 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Mindestens 728 Menschen waren direkt betroffen, dazu kommen 40 indirekt Betroffene. Fabian Reeker, Projektleiter der OBR, spricht von einem »erschreckenden Höchststand rechter Gewalttaten« in Nordrhein-Westfalen und einer »äußerst besorgniserregenden Entwicklung«.

Alle 17 Stunden wird in NRW ein Mensch Opfer rechter Gewalt. Besonders erschütternd: Noch nie seit Beginn des Monitorings gab es so viele Todesopfer wie 2024. Acht Menschen starben im vergangenen Jahr infolge von Angriffen. »Tötungsdelikte sind Ausdruck einer maximalen Eskalation – sie machen deutlich, dass rechte Gewalt in NRW lebensbedrohlich ist«, sagt Sabrina Hosono von der OBR.

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Es gibt nicht nur mehr Attacken, sondern sie werden auch brutaler. 265 Körperverletzungen, zwölf Brandstiftungen und zahlreiche gezielte Übergriffe auf besonders verletzliche Gruppen wie Wohnungslose wurden dokumentiert. »Die Enthemmung rechter Gewalt ist für unsere Beratungsnehmer*innen deutlich spürbar«, berichtet Lara Çelikel von der OBR. Besonders bei Angriffen auf Wohnungslose beobachtet Thomas Billstein von BackUp eine »enthemmte Gewalt, die oftmals unaufgeklärt bleibt. Menschen wurden beispielsweise brutal attackiert und angezündet, während sie schliefen«.

Die Täter*innen nähmen schwerste Verletzungen oder den Tod bewusst in Kauf – oder zielten sogar darauf ab. Die gesellschaftliche Signalwirkung dieser Taten sei enorm, so die Beratungsstellen. Rassismus bleibt das häufigste Tatmotiv. Besonders betroffen sind muslimisch gelesene Personen sowie Schwarze Menschen.

Die Zahl antisemitischer Angriffe ist ebenfalls gestiegen. »Wir beobachten seit Jahren, dass antisemitische Gewalt in ihrer Häufung wie auch in ihrer Enthemmung zunimmt – und dabei längst nicht mehr nur Randphänomen ist. Die Zahlen für 2024 zeigen: Antisemitismus ist gewaltvoll, strukturell und mitten in der Gesellschaft verankert«, erläutert Katherina Savchenka von der OBR.

Auch Angriffe gegen politische Gegner*innen und LSBTIQ+ Personen bleiben auf hohem Niveau. Besonders beunruhigend: In urbanen Räumen wie Köln konzentrieren sich die Angriffe auf sichtbare Vielfalt und Selbstbestimmung. »Die Täterinnen wollen nicht nur verletzen. Sie wollen auch, dass Räume nicht mehr sicher sind«, sagt Hannah Richardy von der OBR.

Die meisten Angriffe ereignen sich im öffentlichen Raum – auf Straßen, in Bussen, Bahnen oder bei Demonstrationen. Betroffene berichten, dass sie oft keinerlei Unterstützung durch Passant*innen erfahren. »Das verstärkt das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit, auch über den Angriff hinaus. Betroffene fühlen sich lange unsicher – selbst an belebten Orten«, schildert Eileen Beyer von BackUp. Viele ziehen sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Die ausbleibende Zivilcourage habe weitreichende Folgen: »Sie erschüttert das Vertrauen in gesellschaftliche Solidarität und normalisiert rassistische, antisemitische und extrem rechte Gewalt als Teil des öffentlichen Lebens«, so Beyer weiter.

Die Beratungsstellen dokumentieren deutlich mehr Fälle als die Behörden: Während der Verfassungsschutz für 2024 nur 154 rechte Gewalttaten und 83 Bedrohungsdelikte zählt, kommen OBR und BackUp auf 526 Fälle. Wenn immer wieder selbst angezeigte Gewalttaten, »in denen eindeutige Hinweise auf ein rechtes Tatmotiv« vorlägen, nicht in die polizeiliche Statistik »Politisch motivierte Kriminalität – rechts« (PMK rechts) fänden, sei das »nicht nur ein Erfassungsdefizit, sondern eine systematische Verschleierung des tatsächlichen Ausmaßes rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt«, kritisiert Fabian Reeker.

Er fordert deshalb: »NRW muss spezialisierte Opferberatungsstellen verlässlich und dauerhaft finanzieren sowie zivilgesellschaftliche Anlaufstellen strukturell stärken – nicht im Rahmen von Projektfinanzierung, sondern als staatliche Verpflichtung.« Sabrina Hosono betont: »Es braucht jetzt nicht nur klare politische Abgrenzung nach Rechts, sondern aktive Solidarität und einen politischen Gegenentwurf: Schutz, Unterstützung und eine Politik, die sich konsequent an den Rechten und Perspektiven der von rechter Hetze Betroffenen orientiert«.

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