• Berlin
  • Bericht über Rechtsextremismus

Neuköllner CDU gegen alle

Bezirksverordnete scheitern mit Missbilligungsantrag gegen Bezirksstadträtin und Herausgeberin des Rechtsextremismusberichts

Vor dem Rathaus Neukölln fanden sich zivilgesellschaftliche Initiativen ein, um gegen den CDU-Antrag zu protestieren.
Vor dem Rathaus Neukölln fanden sich zivilgesellschaftliche Initiativen ein, um gegen den CDU-Antrag zu protestieren.

»Was die CDU hier vorträgt, ist keine nüchterne rechtliche Bewertung. Es ist ein politisch motivierter Versuch, einen unbequemen Bericht zu delegitimieren.« Das schmettert Samira Tanana den Neuköllner Bezirksverordneten am Mittwochabend im Rathaus entgegen. Damit verteidigt die Grünen-Politikerin die Arbeit von Sarah Nagel, gegen die die CDU einen Missbilligungsantrag gestellt hatte. Die Linkenpolitikerin, Bezirksstadträtin für Jugend und Beauftragte für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit hatte im März dieses Jahres den ersten Neuköllner Bericht über Rechtsextremismus im Bezirk überhaupt veröffentlicht. Für 2024 stellen die Autor*innen einen »stetigen, quantitativen Zuwachs der Fallzahlen rechtsextremer Straftaten« gegenüber dem Vorjahr fest. Ein weiterer Schwerpunkt des Berichts liegt auf dem »Neukölln-Komplex«. In der rechtsextremen Anschlagsserin zeige sich dem Kriminologen und Mitherausgeber zufolge nicht nur ein Polizei-, sondern auch ein »massiver Justizskandal«.

Das bisher Brisante: Bereits wenige Tage nach der Veröffentlichung wurde der Bericht vom Bezirksamt wieder einkassiert und war online nicht mehr aufrufbar. Als Grund für den Rückzieher wurde zunächst über eine befürchtete Klage der AfD spekuliert, die dort – das war noch vor der neuen Einschätzung des Verfassungsschutzes – im direkten Zusammenhang mit Rechtsextremismus und rassistischen Äußerungen erwähnt wird. Dies hatte in ähnlichen Fällen bereits in der Vergangenheit zu Publicity-Erfolgen für die Rechtsextremen geführt. Letztlich waren es aber die Abgeordneten der CDU, die solch einen Anstoß an dem Bericht nahmen, dass sie nach Veröffentlichung einen Missbilligungsantrag gegen Sarah Nagel stellten, verbunden mit der Forderung, den Bericht zurückzuziehen und der Ansage, ihn auch mit redaktionellen Änderungen nicht wieder zu veröffentlichen. Über diesen Antrag sollte nun am Mittwoch abgestimmt werden.

Rechtsbruch? Verstöße gegen die Verfassung gar?

Selbstverständlich stelle man sich zwar gegen Extremismus von »ganz rechts oder ganz links«, hob Markus Oegel als erster Redner für die antragstellende Fraktion zur Begründung hervor. »Was wir aber nicht tun, ist, dabei selbst gegen Recht und Gesetz, gegen unsere Verfassung zu verstoßen.« Unrecht dürfe nicht zu Recht werden, doch »genau das aber hat die Bezirksstadträtin der Linken, Sarah Nagel getan.«

Rechtsbruch? Verstöße gegen die Verfassung gar? Das sind schwerwiegende Vorwürfe gegen die Bezirksstadträtin. Schließlich hatte sie mit der Veröffentlichung nach acht Jahren endlich einen Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von 2017 umgesetzt, wonach es jährlich einen solchen Bericht geben sollte. Was konnte Nagel dabei also verbrochen haben, das eine Rücknahme des Berichts und eine Rüge Nagels rechtfertigen würde? Was beanstanden die Fraktionsmitglieder der CDU konkret?

Laut Oegel habe Nagel den Bericht »im Alleingang« veröffentlicht, ohne das Rechtsamt zu befragen, und das sei rechtswidrig. In Verbindung mit dem Vorwurf, die Neutralitätspflicht verletzt zu haben, sind dies die beiden einzigen Hinweise auf ein angeblich rechtswidriges Vorgehen. Sie finden sich auch im Missbilligungsantrag. Dort heißt es: »Bezirksstadträtin Sarah Nagel hat ohne die erforderliche Abstimmung im Bezirksamtskollegium und unter Missachtung der ihr obliegenden Neutralitätspflicht den (...) ›Bericht zu rechtsextremen Aktivitäten in Neukölln‹ veröffentlicht.«

CDU: Neutral gegen Rechtsextremismus

Dass dem Bezirksamt als Organ der Legislative Neutralität auferlegt ist, stimmt. Das bedeutet, dass sich Amtsträger*innen zum Beispiel nicht für oder gegen Parteien oder Behörden aussprechen dürfen. Dass diese verletzt wurde, will der Antrag unter anderem mit diesem Zitat aus dem Bericht belegen: »Die Abschaffung des Verfassungsschutzes muss mit Nachdruck vorangetrieben werden.« Dabei handelt es sich um eine Aussage der Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş. Sie verbindet auf Seite 53 diese Forderung mit der Kritik an der Behörde, diese habe »keinen Beitrag zur Aufklärung des Neukölln-Komplexes geleistet«. Die Frage ist: Verletzt das Bezirksamt tatsächlich seine Neutralität, wenn der Bericht diese und andere Aussagen – deutlich als Zitat Dritter gekennzeichnet – wiedergibt? Denn wie auch die Burak Bektaş Initiative stammen auch die restlichen beanstandeten Zitate stammen von zivilgesellschaftlichen Initiativen, deren Mitwirkung am Bericht laut damaligem BVV-Beschluss ausdrücklich erwünscht war.

Es ist vor allem die Kritik an den Ermittlungsbehörden, die die Redner der CDU am Mittwoch an der Unvoreingenommenheit Nagels zweifeln lassen: Es »finden sich auch Aussagen, die sich mit der Neutralität eines Berichts, so wie ich ihn verstehe, des Bezirksamtes nicht vertragen. Beispielhaft sei die Nennung einer Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes erwähnt oder die radikale Verkleinerung des Polizeiapparats«, kritisierte etwa Volker Hertzberg.

Dass Hertzberg und seine Parteikollegen eine »politische Farbe« des Berichts dort erkennen wollen, wo zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, ihre Kritik äußern, veranlasste die Redner*innen der anderen Fraktionen ihrerseits zu der Vermutung, dass der Antrag der CDU selbst politisch motiviert sei. Für Samira Tanana von den Grünen sei nicht das Verfahren, sondern der Inhalt Grund für die Aufregung: »Es sind die Stimmen im Bericht, die nicht gefallen. Die migrantischen Stimmen, die Stimmen von Initiativen, die seit Jahren rechte Gewalt dokumentieren. Die kritischen Stimmen gegenüber staatlichem Handeln.« Dem pflichtete auch Parteikollegin Susann Worschech bei. So könne man Kritik gegenüber staatlichem Handeln als ärgerlich empfinden. »Vielleicht lesen Sie das mal als einen Indikator dafür, dass den Menschen da draußen das Vertrauen in rechtsstaatliche Institutionen verloren gegangen ist.« Und verloren gegangenes Vertrauen könne nicht dadurch aufgebaut werden, zivilgesellschaftlichen Initiativen falsches Handeln vorzuwerfen.

Zivilgesellschaftliche Organisationen im Visier

Tatsächlich ist es nicht das erste Mal, dass sich die CDU an deren Aussagen und Tätigkeiten stößt. So nahm etwa die Bundes-CDU gemeinsam mit der CSU zivilgesellschaftliche Vereinigungen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, mit einer parlamentarischen Anfrage von 551 Fragen ins Visier: Diese hatten nämlich nach einer gemeinsamen Bundestagsabstimmung der Union mit der AfD auch gegen CDU und CSU demonstriert. Grund für die Union, eine ideologische Motivation und gar eine »Schattenstruktur« in Deutschland anzunehmen. Weitere Kritikpunkte waren angebliche methodische Mängel bei der Erhebung bestimmter Zahlen, weil etwa antisemitische Vorfälle als rechtsextrem motiviert gezählt würden. Denn laut Markus Oegel sei es »ganz offenkundig klar«, dass diese »widerlichen Angriffe gegen jüdische Menschen (...) vor allem aus migrantischen Bevölkerungsanteilen kommen und von linken Gruppierungen (...) initiiert werden.« Ein Argument, dass der CDU-Verordnete mit der AfD-Fraktion gemein hatte, ebenso wie die Tatsache, dass in dem Bericht – der sich laut BVV-Auftrag spezifisch mit Rechtsextremismus beschäftigen soll – nicht auch Linksextremismus untersucht werde.

Nach den Redebeiträgen verteidigte Bezirksstadträtin Nagel ihren Bericht mit der Expertise eben jener von ihr zitierten Initiativen, auch, wenn deren Perspektiven nicht allen gefallen mögen: »Dabei rede ich nicht nur von Initiativen, die genau die gleiche Haltung haben wie vielleicht eine Verwaltung. Nicht alles, was man abbildet oder was man sieht, was man sichtbar macht, macht man sich automatisch zu eigen.«

Diese Initiativen hatten sich zu Beginn der Sondersitzung längst vor dem Rathaus Neukölln zu einer Kundgebung gegen den Missbilligungsantrag versammelt, darunter die Demokratie-Initiative Bündnis Neukölln, die Berliner Vereinigung der Verfolgten des Nazisregimes oder die Burak-Bektaş-Initiative. Letztere bedankte sich ironisch bei der CDU, da durch den Missbilligungsantrag die ganze Thematik noch mal breit aufgefächert würde.

Was sich während der Redebeiträge bereits abzeichnete, wurde durch die folgende Abstimmung bestätigt: Der CDU-Antrag wurde mit 18 Ja-Stimmen (CDU und AfD) zu 29 Nein-Stimmen (Linke, Grüne, SPD) abgelehnt. Ob der Bericht jedoch bald wieder Online auffindbar sein wird, steht auf einem anderen Blatt: Ein Änderungsantrag der Grünen, der die Wiederveröffentlichung des Berichts fordert, wurde ebenfalls abgelehnt, mit den Stimmen von CDU, AfD – und SPD. Auf eine Nachfrage des »nd« zum Abstimmungsverhalten antwortete die SPD-Fraktion bis Redaktionsschluss nicht.

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