Werbung

Friedensforscher für Kriegstüchtigkeit

Führende Institute fordern integrierte Aufrüstung der EU und mehr Waffen für die Ukraine

Gefangen im Krieg: ukrainischer Rettungssanitäter nach einem russischen Raketenangriff nahe Sumy
Gefangen im Krieg: ukrainischer Rettungssanitäter nach einem russischen Raketenangriff nahe Sumy

Für tonangebende deutsche Friedens- und Konfliktforscher ist klar, dass die Zukunft der Sicherheitspolitik der westlichen Industriestaaten eine ohne die Nato sein wird. Und dass sie auf lange Sicht von Aufrüstung geprägt sein soll. Darauf müsse sich auch die Bundesregierung vorbereiten, sagte Christopher Daase vom Peace Research Institute Frankfurt am Main (Prif, Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung) am Montag bei der Vorstellung des Friedensgutachtens 2025.

Die Analyse zu militärischen Auseinandersetzungen und Bedrohungen und Wegen zu ihrer Beilegung und Entschärfung wird alljährlich von den fünf größten Forschungseinrichtungen der Bundesrepublik vorgelegt. Spätestens seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 sind sich die Repräsentanten dieser Institute darin einig, dass die Europäische Union zwecks Prävention insbesondere mutmaßlicher weiterer russischer Aggressionen aufrüsten muss. Daase betonte am Montag, »Fähigkeitslücken« müssten geschlossen werden. Deshalb befürworteten die Forschenden die »vorübergehende Aufnahme von Schulden auf nationaler und europäischer Ebene« für gemeinsame EU-Missionen und Projekte im Rahmen der »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit« (Permanent Structured Cooperation, Pesco).

Für die »Verteidigungsintegration«, so Daase, müsse »die Zustimmung der Gesellschaft zur Erhöhung nationaler Verteidigungsausgaben immer aufs Neue gewonnen werden«. Gleichwohl werde man Sicherheit nicht allein durch »Rüstung, Abschreckung durch Verteidigungsfähigkeit« herstellen können, räumte Daase ein. Denkbar sei etwa, wie während des Kalten Kriegs Aufrüstung mit »Angeboten zu Rüstungskontrollverhandlungen« zu verbinden. Dauerhaft werde es »Sicherheit nicht ohne Frieden geben«. Die europäische Politik dürfe »die Vorbereitung einer künftigen Friedensordnung nicht verhindern«, mahnte der Prif-Experte. »Das mittelfristige Ziel muss friedliche Koexistenz mit der gegenseitigen Anerkennung von Sicherheitsinteressen sein.«

Aktuell halten die Forschenden aber angesichts der politischen Entwicklungen in den USA die koordinierte Aufrüstung der EU und weitere Waffenlieferungen an die Ukraine für vordringlich. Mit einer »zunehmend nationalistisch gesonnenen« US-Regierung und angesichts »territorialer Ansprüche und Drohungen gegenüber Alliierten« habe die Nato »keine Zukunft«. Die USA seien nunmehr ein »weiterer Unsicherheitsfaktor«. Deshalb sei die »transatlantische Partnerschaft, wie wir sie kannten, am Ende«. Deutschland und Europa seien »durch den autoritären Staatsumbau in den USA direkt bedroht«. Europa müsse aber »ohne die USA, vielleicht sogar gegen sie, verteidigungsfähig werden«.

Ursula Schröder, Wissenschaftliche Direktorin des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg (IFSH), betonte: »Was wir bisher sehen, ist keine Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit, sondern Aufrüstung auf nationaler Ebene.«

Gegen die ab dem kommenden Jahr geplante und noch mit der Administration von Joe Biden geplante Stationierung weitreichender US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland wenden sich die Forschenden nicht prinzipiell. Daase formulierte, angesichts dieses Vorhabens sei wohl mit einer neuen Friedensbewegung und mit »massiven Protesten« zu rechnen. Ursula Schröder gab derweil zu bedenken, dass es unter der Regierung von Donald Trump eventuell gar nicht zur Stationierung kommen könnte. Denn im Rahmen der Verhandlungen mit Russland um eine Beendigung des Ukraine-Krieges könnte die US-Administration »auf russische Sicherheitsinteressen eingehen« und von der Stationierung Abstand nehmen.

Angesichts der russischen Bedrohung geht es derzeit nicht ohne die Nato. Europa muss aber ohne die USA, vielleicht sogar gegen sie, verteidigungsfähig sein.

Christopher Daase Leibniz Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF)

Zugleich positionieren sich die Forschenden klar gegen weitere Lieferungen jeglicher Rüstungsgüter an Israel. Ein Stopp aller Exporte von Waffen und für militärische Zwecke nutzbaren Materials sei »dringlicher denn je«, denn Israel habe in Gaza und im Westjordanland »in eklatanter Weise« das humanitäre Völkerrecht verletzt und die Grenzen der »legitimen Selbstverteidigung überschritten«, erklärte Daase.

Für die deutsche Politik gegenüber Israel müsse gelten: »Völkerrecht geht vor Staatsräson«, heißt es im Gutachten. Dies schließe »bis auf Weiteres einen Staatsbesuch des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in Deutschland aus«. Denn käme es zu einer Visite Netanjahus in Berlin, sei die Bundesrepublik verpflichtet, ihn festzunehmen und an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) auszuliefern. Der IStGH hatte einen Haftbefehl gegen Netanjahu und den ehemaligen israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen des Verdachts erlassen, schwere Kriegsverbrechen veranlasst zu haben.

Weiter sollte Deutschland sich »mittelfristig« für eine Anerkennung eines palästinensischen Staats einsetzen, empfehlen die Forschenden. Eine dauerhafte Lösung des »Palästina-Konflikts« schränke »in keiner Weise das Recht Israels auf einen jüdischen Staat in sicheren Grenzen ein«, betonte Daase.

Claudia Baumgart-Ochse vom Prif betonte auf Nachfragen, das Entscheidende im Umgang mit Israel seien aktuell nicht Begrifflichkeiten wie Völkermord, sondern, dass die EU und vor allem die Bundesregierung aktiv werden. Kanzler Friedrich Merz (CDU) müsse seinen zuletzt kritischen Worten Taten folgen lassen. Die Bundesregierung müsse sich der Mehrheit in der EU anschließen, die eine Aussetzung des EU-Assoziationsabkommens mit Israel fordert, so Baumgart-Ochse. Des weiteren müsse die Bundesregierung Friedensinitiativen wie den ägyptischen Plan für den Wiederaufbau Gazas »massiv unterstützen«.

Dem »vergessenen« Krieg im Sudan ist das erste Kapitel des Gutachtens gewidmet. Die Forschenden empfehlen der Bundesregierung, Konflikte wie diesen »mit hohem Eskalationspotenzial und gravierenden humanitären Auswirkungen« stärker in den Blick nehmen, da sie auch Deutschlands Sicherheit bedrohten. Die Bundesrepublik müsse die humanitäre Hilfe erhöhen und zivilgesellschaftliche Kräfte im Sudan stärken.

Die verschärfte Asylpolitik der schwarz-roten Koalition sehen die Forschenden sehr kritisch. Sie plädieren eher für mehr Kontingente für die Aufnahme besonders Schutzbedürftiger aus Krisenregionen auch in Deutschland. Insbesondere die vom Kabinett vorangetriebene Aussetzung des Familiennachzugs subsidiär Schutzberechtigter lehnen die Gutachter*innen ab. Denn nachweislich gebe es »keine effektivere Extremismusprävention als familiäre Einbindung«, so Daase.

Herausgeber des Friedensgutachtens sind neben dem Prif und dem IFSH das Bonn International Center for Conversion (Bicc) sowie das Institut für Entwicklung und Frieden (Inef) der Uni Duisburg-Essen. Es erscheint seit 1987.

Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen

Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.