Die zersplitterte Ökumene

Kolonialismus, Zionismus und die andauernde Nakba – ein Gespräch der »Palestinian and Jewish Academics« mit Historiker Ussama Makdisi

  • Interview: Palestinian and Jewish Academics
  • Lesedauer: 14 Min.
Der US-palästinensische Historiker Ussama Makdisi von der University of California Berkeley.
Der US-palästinensische Historiker Ussama Makdisi von der University of California Berkeley.

In Ihrem letzten Buch »Age of Coexistence: The Ecumenical Frame and the Making of the Modern Arab World« (2019) befassen Sie sich mit der historischen Realität eines friedlichen Zusammenlebens in Palästina und im weiteren Maschrek vor der Nakba – ein Zusammenleben, das dem hegemonialen Narrativ von religiös-ethnischen Spaltungen zu widersprechen scheint. Können Sie dies näher erläutern?

Es gibt eine lange, unterschätzte Geschichte des konfessionsübergreifenden Zusammenlebens im Maschrek, dem östlichen Teil der arabischen Welt. Innerhalb der Region selbst wird diese Geschichte heute oft romantisiert oder heruntergespielt, während sie im Westen wiederum entweder völlig unbekannt oder orientalisiert ist.

Interview

Ussama Makdisi (1968 in Washington D.C.) ist ein palästinensisch-amerikanischer Historiker mit Schwerpunkt Naher und Mittlerer Osten. Makdisi, der aus einer renommierten Wissenschaftlerfamilie stammt (der postkoloniale Literaturtheoretiker Edward Said war sein Onkel), unterrichtet an der University of California Berkeley. 2018 wurde er mit dem Berlin Prize der American Academy ausgezeichnet.
Das Interview wurde von der »Association of Palestinian and Jewish Academics« geführt und dort erstveröffentlicht.

Anders gesagt, sehen die meisten nur Spaltung oder Unterschiede zwischen und innerhalb verschiedener Konfessionen oder reduzieren die Geschichte auf die simplifizierte Idee von muslimischer Unterdrückung der Minderheiten, die sich oft in verfälschenden Erzählungen vom »Dhimmitum« widerspiegeln, dem historischen Status von Nicht-Muslim*innen unter islamischer Herrschaft. Es gibt diese vage Vorstellung, dass mittelalterliche Texte die Art und Weise, wie Menschen ihr Leben lebten, tatsächlich maßgeblich prägten. Dies führt dazu, dass die außerordentlich reichen, vielfältigen, pluralistisch gelebten Erfahrungen verschiedener Gesellschaften, Gruppen, Völker und Individuen zu Monolithen wie Muslim*innen, Christ*innen, Jüd*innen oder Sunnit*innen und Schiit*innen verflacht werden.

Es gibt mit anderen Worten eine Geschichte des Zusammenlebens, die sich über Jahrtausende erstreckt und in den Städten, Orten, Dörfern und Vierteln variiert. Es gibt also nicht die eine statische Form des überkonfessionellen Zusammenlebens. Die Tendenz, dies zu übersehen, zu minimieren oder nicht ernst zu nehmen, ist das Ergebnis moderner Propaganda und Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit, die dazu ermutigt, uns ausschließlich durch [ethnische und/oder religiöse] Abgrenzung zu verstehen. Dies verleitet dazu, Vielfalt im Maschrek mit religiösen oder konfessionellen Unterschieden gleichzusetzen und nicht wertzuschätzen, dass jede dieser Gemeinschaften selbst eine Vielfalt an Muslim*innen und Christ*innen und Jüd*innen vereinte. Die Bandbreite des Denkens und gelebter Erfahrungen lässt sich nicht auf eindimensionale konfessionelle Unterschiede oder schlicht Nationalismus reduzieren.

Was dieses Umdenken betrifft, bezeichnen Sie das Jahr 1860 als einen wichtigen Wendepunkt in der ökumenischen Geschichte, als Christ*innen in Damaskus massakriert wurden. Was ist 1860 geschehen und welche Rolle spielte dies bei der Schaffung dieser ökumenischen Struktur, die wertvolle Lehren für die Gegenwart bietet? Worin besteht außerdem der Unterschied zwischen dieser ökumenischen Struktur und dem heutigen säkularen Kontext?

Zunächst einmal habe ich das Wort »ökumenisch« gewählt, weil es sowohl in der christlichen als auch islamischen Tradition verwendet wird. »Ökumenisch« macht klar, dass wir religiöse und konfessionelle Unterschiede haben und anerkennen können, wie z. B. Sunnit*innen und Schiit*innen, Maronit*innen und Protestant*innen im arabischen Osten. Und dann können wir diese Unterschiede in einer gemeinsamen kollektiven Gemeinschaft, Stadt, Nation oder einem übergreifenden Gefühl des Seins und der Zugehörigkeit überwinden. Wir erkennen die Feste, Feiertage und Traditionen der anderen an. Das ist etwas ganz anderes als Säkularismus, insbesondere ist es anders als der französische Laizismus, der sich im Grunde in Abgrenzung zur Religion versteht.

Es gibt die bekannte Kritik des Säkularismus, die besagt, dass er in erster Linie aus Europa stammt und auf die europäische Geschichte, die europäischen Theorien und europäischen Erfahrungen, vor allem auf die Französische Revolution, reagiert – also einer Geschichte, die nicht die des Nahen Ostens ist. Wir sollten also nicht in die Falle der Gegenüberstellung zwischen säkular und religiös tappen, denn das ist es nicht, was die Menschen im Maschrek letztlich trennt. Die wirklichen Unterschiede in der Neuzeit betreffen den Kolonialismus: wie sich Menschen dem Kolonialismus anpassen, sich ihm unterwerfen oder sich ihm widersetzen. Das ist ein sehr viel wichtigerer Teil der modernen Geschichte des Nahen Ostens.

Zweitens geht es in Bezug auf 1860 um ein Massaker, das in Damaskus aus vielerlei Gründen stattfand, auf die ich jetzt nicht näher eingehen kann. Hunderte von Christ*innen wurden bei diesem Massaker in Damaskus im Jahr 1860 sowie während des Krieges zwischen Maronit*innen und Drus*innen getötet, der den Massakern im Libanongebirge vorausging. Der Punkt ist, dass wir diese Geschichte bisher sensationslüstern und isoliert vom Rest der Welt betrachtet haben.

Association of ­Palestinian and Jewish Academics

Der »Verein palästinensischer und jüdischer Akademiker*innen (PJA)« ist ein 2024 gegründeter Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen mit Bezug zum deutschsprachigen Raum. In ihrer Gründungserklärung heißt es: »Viele von uns sind Nachkommen von Opfern und Überlebenden des Holocausts und der Nakba. Diese Vergangenheiten hallen in der Gegenwart wider; viele von uns haben selbst Antisemitismus und antipalästinensischen Rassismus erlebt. In Deutschland und anderswo scheint das Gedenken an den Holocaust oft nur unter Ausschluss der Anerkennung der Nakba möglich zu sein. Wir sind überzeugt, dass die Erinnerung an den Holocaust ein bedingungsloses Einhalten des Völkerrechts und der Menschenrechte weltweit nach sich ziehen muss.«
Dem deutschen Staat wirft der Verein vor, die Spaltung zwischen jüdischen und palästinensischen Menschen mit seiner Staatsräson zu verschärfen: »Besonders in Deutschland erleben wir zunehmend repressive staatliche Politiken, die Zensur, Schikanen und Diffamierungen bis hin zu einer Bedrohung des Aufenthaltsstatus oder dem Verlust des Arbeitsplatzes beinhalten. Gegen die Gewalt dieser Position erklären wir unsere intellektuelle, politische und ethische Solidarität zueinander.«
Zu den Gründer*innen der Initiative gehören unter anderem der Musiker Michael Barenboim, die Juristin Nahed Samour, die Philosophin Antonia Birnbaum und der Islamwissenschaftler Islam Dayeh.
Das nd dokumentiert das von den PJA geführte Interview mit Ussama Makdisi in einer leicht gekürzten Fassung.

Wir müssen sie allerdings verstehen, erforschen und uns mit ihr als Historiker*innen auseinandersetzen, vor allem als Menschen aus der Region, denen diese Geschichte wichtig ist und die sie nicht verleugnen wollen. Andererseits müssen wir auch anerkennen, dass es nach diesem Massaker alle möglichen Leute gab, die es verurteilten und sich fragten, wie sichergestellt werden kann, dass solche Ereignisse nie wieder geschehen.

Oft werden die Ereignisse von 1860 als Absage an die Möglichkeit des überkonfessionellen Zusammenlebens verstanden.

Ja, viele sahen in dem Massaker eine Bestätigung dessen, dass wir entlang konfessioneller Zugehörigkeit verfeindet sind – dass beispielsweise Muslim*innen und Christ*innen nicht zusammenleben könnten. Der Punkt ist jedoch, dass die allermeisten Menschen damals darauf bestanden, dass wir tatsächlich zusammenleben können und ein Volk sind. Sie beschlossen, dass der Weg, um vergleichbare Gewaltausbrüche in der Zukunft zu verhindern, darin bestand, sich für neue Formen der Bildung einzusetzen, insbesondere für neue Formen der ökumenischen Bildung.

Um vergleichbare Gewaltausbrüche in der Zukunft zu verhindern, setzte man sich für neue Formen der Bildung, insbesondere der ökumenischen Bildung, ein.

Daher wurden nach 1860 Schulen von christlichen und muslimischen Araber*innen gegründet, die sich der Idee der Zugehörigkeit zu einem nationalen Gemeinwesen verschrieben hatten. Sie sahen sich als Mitglieder einer Gemeinschaft und wollten andere dazu erziehen, andere Religionen zu respektieren, sie aber auch in eine übergeordnete nationale syrische oder osmanische Gemeinschaft überführen. Das Bemerkenswerte ist, dass es nach 1860 keine weiteren Massaker an Christ*innen in Damaskus gegeben hat.

Es gab aber eine andere Reaktion auf das Massaker an Jüd*innen im Irak im Jahr 1941.

Nach dem Gewaltausbruch gegen Christ*innen in Damaskus 1860 reagieren muslimische und christliche Gemeinden mit einer Art »ökumenischer« Bildung.
Nach dem Gewaltausbruch gegen Christ*innen in Damaskus 1860 reagieren muslimische und christliche Gemeinden mit einer Art »ökumenischer« Bildung.

Ja, und es gab auch eine andere Reaktion auf die Massaker von Adana an den Armenier*innen im Jahr 1909. Der Punkt ist, dass 1860 eine Ausnahme von der Regel der Koexistenz war. Zwar ist dieses Massaker zum Hauptwesensmerkmal der Menschen im Nahen Osten orientalisiert worden. Tatsächlich wurde es jedoch zum Katalysator für eine außergewöhnlich moderne Kultur des nationalen Zusammenlebens, die auf der Idee der gleichberechtigten Staatsbürgerschaft beruht. Das ist der Unterschied zwischen der Zeit vor und nach 1860. Nach 1860 gab es verstärkte Bemühungen, eine gemeinsame Identität als Syrer*innen, Araber*innen und Osman*innen im Maschrek zu finden und gleichzeitig ein bewusstes Zusammenleben als gleichberechtigte Bürger*innen anzustreben.

Der Unterschied zwischen dem Massaker von 1941 im Irak, den Massakern an den Armenier*innen, die 1909 in Adana stattfanden, oder dem Völkermord an den Armenier*innen während des Ersten Weltkriegs besteht darin, dass es sich um große Brüche handelte. Es stellt sich also die Frage, warum ein Typ von Massaker, nämlich das von 1860, zum Katalysator für eine Kultur der Koexistenz wurde und warum hingegen diese anderen Vorfälle eine sehr lange Geschichte des Zusammenlebens beendeten.

Für mich ist klar, dass es im arabischen oder syrischen Fall keinen ethnisch-religiösen Nationalismus, sondern eine gemeinsame ökumenische Form der nationalen Zugehörigkeit gab.

Und das war in den anderen Fällen nicht so?

Ja, beispielsweise der Zionismus, der vom britischen Kolonialismus in Palästina unterstützt wurde, war eine koloniale Siedlerbewegung, die sich der Umwandlung des multireligiösen Palästinas in einen ausschließlich nationalistischen jüdischen Staat verschrieben hatte. Der osmanisch-türkische Nationalismus wiederum war im Fall der Massaker an den Armenier*innen und des anschließenden Völkermords auch ein Vorzeichen für den endgültigen Zusammenbruch des osmanischen Pluralismus und für den Beginn eines anderen, weitaus unheilvolleren und rücksichtsloseren nationalistischen Ansatzes im Umgang mit Unterschieden im Zeitalter des westlichen Imperialismus.

Sie sprechen dies auch im Zusammenhang mit dem Zionismus an. In Ihrem Buch weisen Sie darauf hin, dass der Zionismus weder aus dem sozialen Gefüge, der Realität, der gelebten Erfahrung oder der Geschichte des Maschrek noch aus der Geschichte des Zusammenlebens hervorgeht. Könnten Sie das etwas näher erläutern?

1941 kommt es in Bagdad zum »Farhud«-Pogrom, das den probritischen König entmachten soll, sich aber gegen die jüdische Gemeinde richtet.
1941 kommt es in Bagdad zum »Farhud«-Pogrom, das den probritischen König entmachten soll, sich aber gegen die jüdische Gemeinde richtet.

Es war genau das Gegenteil. Der Zionismus ist aus einer europäischen Geschichte hervorgegangen, die in keiner Weise mit der Dynamik, der Geschichte und der Kultur der Region des arabischen Maschreks zu tun hat – er ist antithetisch zu ihr. Der Zionismus tritt antithetisch zur arabisch-jüdischen Geschichte in der Region sowie zur christlichen, muslimischen und arabischen Zugehörigkeit zu dieser Region zutage. Er ist gegensätzlich zu all diesen Dingen, weil der Zionismus nicht im Dialog mit oder als Antwort auf die Geschichte des Maschreks entstanden ist. Er ist vielmehr in Europa als Antwort auf den europäischen Antisemitismus und den europäischen Nationalismus entstanden.

Er schlug also eine europäische nationalistische Lösung vor. Wo? In Übersee. Wie? Durch Kolonisierung. Zionist*innen dachten über andere Orte nach, aber letztlich entschieden sie sich 1897 aus offensichtlichen historischen, metaphorischen und religiösen Gründen für Palästina. Letztendlich waren die Anführer*innen und Theoretiker*innen des Zionismus jedoch allesamt europäische aschkenasische Jüd*innen, die auf den Antisemitismus reagierten und darüber nachdachten, wie man mit dem Problem umgehen und es in Übersee lösen könnte.

In akademischen Kreisen, in Deutschland und darüber hinaus, gibt es anhaltende Debatten, die bestimmte Formen des Zionismus, wie den kulturellen oder liberalen, verteidigen wollen. Glauben Sie, dass Ihre Forschung zu diesen Debatten einen Beitrag leistet?

Zunächst einmal: Wer auch immer Ihnen das im Zusammenhang mit dem Völkermord in Gaza sagt, der möchte diesen wahrscheinlich nicht wahrhaben oder von ihm ablenken. Ja, natürlich hat es verschiedene Formen des Zionismus gegeben. Denken Sie daran, dass der Zionismus nicht das Judentum repräsentiert. Er entstand zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt im Europa des mittleren bis späten 19. Jahrhunderts und hatte keine Hegemonie unter Jüd*innen, denn Jüd*innen sind divers, wie alle anderen Menschen auch. Wer auch immer Judentum mit Zionismus verschmilzt, verleugnet die Pluralität der jüdischen Geschichte, die viel reicher ist als der Zionismus allein. Die Realität ist, dass der Zionismus letztlich ein nationalistisches Projekt ist. Er fing als ein Fantasieren über die Frage an, wie man sich einen jüdischen Staat in verschiedenen Ländern, Räumen und Gesellschaften vorstellen könnte.

Sobald dieses Projekt in die Politik und nach Palästina gebracht wurde, zunächst mit kolonialer Unterstützung der Briten – d.h. der Balfour-Erklärung von 1917 – verwandelte es sich in eine koloniale Praxis, die letztlich inhärent und explizit gewaltsam gegenüber den Palästinenser*innen war. Es mag also viele Formen des Zionismus geben: als Theorie, als Abstraktion, als Fantasie. Aber in Wirklichkeit gibt es nur eine Hauptform des Zionismus, wie Edward Said es vor Jahrzehnten ausdrückte: den Zionismus aus der Sicht seiner Opfer.

In der Praxis wurde der Zionismus zur Ideologie des Staates Israel, der auf jeder Ebene zutiefst und von Natur aus antipalästinensisch ist: ideologisch, politisch, militärisch, kulturell, sozial. Heute gibt es nur eine relevante Form des Zionismus, und das ist die hegemoniale Form.

Um nur einen Vergleich aus den Vereinigten Staaten zu bemühen, so unvollkommen dieser auch sein mag: Man kann nicht über weiße Kultur im Süden der Vereinigten Staaten während der Zeit der Sklaverei oder Jim Crow sprechen, ohne zu bedenken, wie sie sich auf Schwarze Amerikaner*innen auswirkte. Dasselbe lässt sich über praktisch jede andere Form des hegemonialen Nationalismus gegenüber verschiedenen Minderheiten in nationalistischen Räumen sagen. Der europäische Nationalismus im späten 19. Jahrhundert in Ländern wie Russland, Polen, Deutschland oder Österreich ist beispielsweise mit dem Aufkommen des nationalistischen europäischen Antisemitismus verknüpft.

Eine andere Möglichkeit, die miteinander verknüpften Kontexte zu durchdenken, ist vielleicht, die 1920er und 1930er Jahre als Zeit zu verstehen, in der sich sowohl der Zionismus als auch der Faschismus materiell verstärkten. Wie verhält sich das zu unserer heutigen Zeit?

Viele Wissenschaftler*innen haben über die dialektische Beziehung zwischen Zionismus und Antisemitismus geschrieben. Der Zionismus entstand als Reaktion auf den Antisemitismus. Aber er versuchte auch, den Antisemitismus zu widerlegen, indem er sagte: »Wir sind wie ihr Europäer, wir gehören wie ihr zu dieser Idee des ›zivilisierten‹ Europas. Aber wir werden zu euch außerhalb Europas«. Dies entspricht mehr oder weniger dem Vorschlag von Theodor Herzl. Das ganze zionistische Projekt ist letztlich eines von angeblich modernen Zivilisator*innen in einem angeblich rückständigen, primitiven Teil der Welt. Der Zionismus als politisches und koloniales Projekt ist ein Zwangsprojekt, das darauf beruht, die einheimische Bevölkerung zu verleugnen, zu ignorieren und sich ihr aufzudrängen.

Das ganze zionistische Projekt ist letztlich eines von angeblich modernen Zivilisator*innen in einem angeblich rückständigen, primitiven Teil der Welt.

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Aus diesem Grund benötigten die Zionist*innen im Mandatsgebiet Palästina die britische Kolonialkontrolle, um Palästinenser*innen zu unterdrücken. Und deshalb schrieb Chaim Weizmann, der Leiter der zionistischen Bewegung in Palästina, 1918 einen Brief an Arthur Balfour (der die berühmt-berüchtigte Balfour-Erklärung verfasste), in dem er ausdrücklich betonte, dass Demokratie im britisch besetzten Palästina keine Option sei. Sein Argument war, dass Palästina keine Demokratie haben könnte, weil, wenn ich mich richtig an die Formulierung erinnere, »die brutalen Zahlen gegen uns arbeiten«.

Mit anderen Worten: Die große Mehrheit der Bevölkerung Palästinas war palästinensisch. Eine Demokratie war somit unmöglich, da Palästinenser*innen ansonsten die große Mehrheit der Bevölkerung geblieben wären, und die Zionist*innen somit keinen souveränen Staat hätten schaffen können. Deshalb entschied man, die Einheimischen samt der Demokratie zu unterdrücken. Wenn man Demokratie unterbindet, dann unterdrückt man den Willen des Volkes. Man unterdrückt die demokratische Vertretung und erzwingt etwas, das für mich wie Kolonialismus klingt. Das ist es, was der Zionismus in Palästina mit praktisch jeder anderen Siedlerkolonialbewegung gemeinsam hat. Sie alle beruhen auf der Negierung und Verleugnung der einheimischen Bevölkerung.

Ich denke, dass die Verbindung zum Faschismus ein eher aktuelles Problem in dem Sinne ist, dass sich der israelische Staat, seine politischen Parteien und der politische Diskurs jetzt nicht mehr nur offen verächtlich gegenüber palästinensischem Leben, der Gegenwart und Zukunft, sondern, wie wir in Gaza sehen, de facto völkermörderisch verhalten. Das Bündnis zwischen der zionistischen israelischen Rechten und der faschistischen oder rassistischen Ultrarechten in Europa und den Vereinigten Staaten ist heute offensichtlich. Die Ironie besteht darin, dass das Bündnis zwischen diesen Akteuren auf der Unterstützung eines ethnisch-religiösen Nationalismus beruh

Der jüdisch-amerikanische Journalist Peter Beinart hat dazu kürzlich das Buch »Being Jewish After the Destruction of Gaza« veröffentlicht.

Peter war früher ein sehr liberaler Zionist, aber er hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Heute ist er darüber entsetzt, was aus dem Staat Israel geworden ist. In seinem Buch sagt er, dass ihn die Erkenntnis mit Trauer erfüllt, dass viele Anhänger*innen des Zionismus, die er kennt, an die Idee eines jüdischen Staates glauben, obwohl dieser Millionen von nicht-jüdischen Palästinenser*innen beherrscht und unterjocht. Er glaubt an eine ethische Praxis des Judentums, die die Befreiung der Palästinenser*innen miteinschließt.

Beinarts ethischer Aufruf entsteht im Kontext einer lebendigen jüdischen Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten, die unter Bedingungen eines säkularen Staates floriert, in dem jeder unabhängig von seiner Religion und trotz der langen Geschichte des strukturellen und allgegenwärtigen Rassismus in den USA theoretisch gleichberechtigt sein sollte. Die jüdischen Gemeinden in den USA sind also in einem Staat gediehen, der sich rechtlich und ideologisch grundsätzlich vom ausdrücklich diskriminierenden ethno-nationalistischen Staat Israel unterscheidet.

In diesem Zusammenhang ist es für Beinart (und für mich) klar, dass die wachsende Zahl von Faschist*innen und Suprematist*innen, die Muslim*innen, Araber*innen, Schwarze und Latinx-Amerikaner*innen sowie nicht-weiße Migrant*innen hassen, auch Juden hassen. Beinart sagt, es sei Wunschdenken, etwas anderes zu glauben. Wenn man sich mit Faschist*innen verbündet, sollte man nicht glauben, dass man dadurch vor Faschist*innen geschützt ist. Wenn sie Palästinenser*innen und den Rest der leicht zu marginalisierenden Menschen wie Visa-Inhaber*innen, protestierende Studierende und Unterstützer*innen Palästinas beseitigt haben, werden sie sich die Nächsten vornehmen. Denn diese Leute sind letztlich Ethno-Nationalist*innen.

Faschismus und Zionismus sind eng verbunden. Bedeutet das, dass sie sich gegenseitig bedingen?

Als Wissenschaftler*innen und Historiker*innen müssen wir verstehen, dass der Zionismus lange vor dem Faschismus eine starke Allianz mit dem Liberalismus einging. Ich denke, wir neigen dazu, diese Tatsache zu verdrängen. Leute wie Eleanor Roosevelt, eine der Unterzeichner*innen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, und andere liberale Politiker*innen nach dem Zweiten Weltkrieg waren sehr enthusiastische Befürworter der Idee des Zionismus. Die »Wiederherstellung« des jüdischen Volkes in Palästina war mit anderen Worten eine Idee, die unter vielen liberalen Persönlichkeiten im Westen Unterstützung fand.
Es waren also nicht nur Faschist*innen, die den antipalästinensischen Staat Israel unterstützt haben. Vielmehr hat der Zionismus auch diese liberale Genealogie. Das ist extrem wichtig, denn das ist es, was die Menschen in Deutschland, soweit ich den deutschen Fall verstehe, auf die Idee bringt, dass sie den Zionismus unterstützen müssen, um antifaschistisch zu sein. Doch auch die Geschichte des liberalen Zionismus basiert letztlich auf Verneinung der und systemischer Gewalt gegen die Palästinenser*innen.

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