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Pflegekräfte: Der Kampf um die Krankenhäuser
Mit neuartigen Tarifverträgen wehren sich Pflegekräfte gegen die neoliberale Ausrichtung der deutschen Krankenhauspolitik
Nur ein Teil von denen, die heute in Krankenhäusern Patienten pflegen, dürfte sich an die Einführung der Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups – DRG) 2003 erinnern. Und noch weniger kennen vermutlich die Vorgeschichte. Von Selbstkostendeckung (und noch möglicher staatlicher Planung auf Ebene der Bundesländer) und dualistischer Finanzierung ausgehend (Krankenkassen finanzieren laufenden Betrieb, Bundesländer die nötigen Investitionen), wurde über längere Zeit ein neoliberaler Umbau vollzogen.
Mit den DRG kamen feste Preise für bestimmte Leistungen. Weil schon 1985 gesetzlich ermöglicht wurde, dass Krankenhäuser Gewinne und Verluste machen können, versuchten diese in der Folge, die Kosten zu drücken, und zwar explizit jene in der Pflege. Das ging einher mit der Stärkung der betriebswirtschaftlichen Leitung der Kliniken. Für die Berufsgruppe der Pflegenden bedeutete das Arbeitsverdichtung. Parallel wurden Stellen abgebaut – vor allem in den Jahren zwischen 1997 und 2009. Erst 2017 wurde wieder der Stand von 1991 erreicht. Indessen stiegen aber die Personalkosten für die Ärzte zwischen 1991 und 2017 um den Faktor 3,7. Zugleich wuchs die Fallzahl deutlich, ebenso Schwere und Behandlungsintensität der Fälle.
Parallel zu diesen Veränderungen gewannen die Krankenhäuser in privater Trägerschaft an Terrain: Von 15 Prozent der Häuser 1991 hat sich ihr Anteil bis 2021 mehr als verdoppelt auf 37,8 Prozent, vor allem zu Lasten von Kliniken in öffentlicher Hand. Die Geschichte des neoliberalen Umbaus der Krankenhausfinanzierung nimmt der Historiker Kalle Kunkel als Ausgangspunkt seiner detailreichen Untersuchung zu Tarifkonflikten in der stationären Versorgung. Bei dem Band, der jetzt im Hamburger VSA-Verlag erschien, handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung von Kunkels Doktorarbeit. Der Autor war Gewerkschaftssekretär und hatte 2015 den ersten Streik zur tariflichen Personalbemessung an der Charité in Berlin mitorganisiert und begleitet.
Diese persönliche Erfahrung hat offensichtlich den Blick geschärft für die Verquickung von gewerkschaftlichen Kämpfen für tarifliche Entlastung und politischen Rahmenbedingungen. Etwa dafür, dass nach der Erkämpfung des ersten Tarifvertrages Entlastung an der Charité auch juristisch geklärt wurde, dass die Forderung nach Personalvorgaben überhaupt ein legales Streikziel sein kann. Oder dafür, dass nur zum Teil Erzwingungsstreiks notwendig wurden, dann aber Abschlüsse einfacher zu erreichen waren.
Jedoch änderten sich in den vom Autor betrachteten Zeiträumen auch etliche Bedingungen grundsätzlich: Klinikträger traten etwa dem Bund kommunaler Arbeitgeber bei. Gravierender noch war die Herausnahme der Finanzierung von Pflegeleistungen aus dem DRG-System ab 2020.
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Dieser Herausforderung stellte sich Verdi in Berlin und Nordrhein-Westfalen damit, dass nicht refinanzierte Berufsgruppen außerhalb der »Pflege am Bett« explizit in einen zweiten Anlauf für Kämpfe für Entlastung einbezogen wurden. Das gelang auch, weil die Aktiven davon ausgingen, dass Krankenhäuser nur als Ganzes funktionieren können und die Stärkung nur einer Berufsgruppe nicht genügt.
Die verschiedenen Entlastungstarifverträge bisher hatten jedoch immer ihre Grenzen, etwa in Bezug auf wirksame Sanktionsmechanismen gegenüber Arbeitgebern bei Unterschreitung von Personalzahlen. Enttäuschungen und Frustrationen mussten und müssen für künftige Kämpfe bewältigt werden. Die von Kunkel geführten Interviews geben hier interessante Einblicke in das gewerkschaftliche Selbstverständnis.
Mit den bisherigen Erfolgen bei der Erkämpfung von Tarifverträgen Entlastung an einigen Krankenhäusern bundesweit ist es nicht getan. So gibt es solche Verträge eben durchaus noch nicht an allen Krankenhäusern, ganz zu schweigen davon, wie Personalregelungen in der Pflege und erst recht (nicht) darüber hinaus umgesetzt werden. Außerdem geht es weiter bei der Umgestaltung der stationären Versorgung – mit einer Krankenhausreform, für die Verdi bereits eine »echte« Vorhaltefinanzierung gegenüber einer nur zögerlichen DRG-Aufweichung aufruft und zugleich bedarfsgerechte Personalvorgaben verlangt.
Kalle Kunkel: »Langer Atem – keine Geduld mehr«. Der Kampf um die Krankenhäuser als politischer Tarifkonflikt. Hamburg 2025. 280 S., 19,80 €.
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