Erster Schritt, aber zu spät?

Linke Stimmen zur Anerkennung Palästinas

Mauern und Kontrollen: Die Bewegungsfreiheit ist in der Westbank extrem eingeschränkt.
Mauern und Kontrollen: Die Bewegungsfreiheit ist in der Westbank extrem eingeschränkt.

Mit der Debatte über eine Anerkennung des Staates Palästina scheint sich der Tonfall in der Partei Die Linke zu ändern. Hatte die Parteiführung in den vergangenen eineinhalb Jahren meist vermieden, zum Gaza-Krieg Stellung zu beziehen, so schlug der Ko-Vorsitzende Jan van Aken diese Woche im ARD-»Morgenmagazin« deutliche Töne an: Die neuen Hilfslieferungen seien nicht mehr als »ein Tropfen auf den heißen Stein«, die Abwürfe von Lebensmitteln »reine Propaganda«.

Deutschland müsse endlich auf Distanz zur Regierung Netanjahu gehen, forderte der Linke-Vorsitzende. »Wer Verhungernlassen als Kriegswaffe einsetzt, kann kein Partner sein«, so van Aken. Die Bundesregierung müsse sämtliche Waffenlieferungen einstellen, die wirtschaftliche Bevorzugung Israels stoppen und sich der französischen Anerkennung Palästinas anschließen.

Gysi: Siedlungen sind völkerrechtswidrig

Gregor Gysi, langjähriger Fraktionsvorsitzender der Partei, äußerte sich gegenüber »nd« etwas zurückhaltender. Auch er befürwortet eine zügige Anerkennung Palästinas. Zwar bleibe diese erst einmal symbolisch, erhöhe jedoch den politischen und diplomatischen Druck auf Israel. Den Einwand, dass die jüdischen Siedlungen in der Westbank eine Zweistaatenlösung faktisch unmöglich gemacht hätten, will der Alterspräsident des Bundestages nicht gelten lassen: »Die Siedler können entweder nach Israel umziehen oder stehen dann unter palästinensischer Hoheit«, so Gysi. »Im Übrigen hat der UN-Sicherheitsrat festgestellt, dass die Siedlungen völkerrechtswidrig sind, sodass man sich mit deren Verbleib nicht abfinden darf.« Für Gysi ist es auch »im Interesse der Sicherheit Israels, den Palästinenserinnen und Palästinensern eine Zukunft zu bieten.«

Reisner: »Frieden beginnt nicht mit diplomatischen Formeln«

Die Bundestagsabgeordnete Lea Reisner, die für Die Linke im Auswärtigen Ausschuss sitzt, bringt zudem »die Umsetzung des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs zur israelischen Besatzung« ins Gespräch. Aus dem IGH-Gutachten folgt, dass bilaterale Beziehungen mit Israel daraufhin überprüft werden müssen, ob mit Kooperationen die Besatzung unterstützt wird.

Reisner hält die Anerkennung Palästinas zwar für überfällig, betont aber, dass das noch keine Lösung garantiere. »Frieden beginnt nicht mit diplomatischen Formeln, sondern mit gleichen Rechten, Sicherheit und Würde für alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan«, so Reisner. Entscheidend für die Lösung des Konflikts sei die Verbesserung der Lage der Palästinenser*innen, die aufgrund der Besatzung »ohne Bewegungsfreiheit, ohne demokratische Mitbestimmung und oft ohne Zugang zu elementarer Grundversorgung« lebten. »Die strukturelle Entrechtung muss beendet werden«, so Reisner. »Ob in einem oder zwei Staaten müssen die Menschen vor Ort in einem gemeinsamen Prozess erarbeiten.«

Samour: Zwei-Staaten-Ansatz lässt Realitäten vor Ort außer Acht

In palästinasolidarischen Gruppen wird die Anerkennung Palästinas teilweise skeptischer bewertet. Die Berliner Völkerrechtlerin Nahed Samour sagte gegenüber »nd«, der Zwei-Staaten-Ansatz lasse völkerrechtliche Prinzipien, die Realitäten vor Ort und die Forderungen der palästinensischen Zivilgesellschaft außer Acht. »Weder werden damit die Fragmentierung von palästinensischem Territorium und Bevölkerung noch die Abriegelungspolitik und die Völkerrechtsverletzungen adressiert«, so Samour. »Die Diskussion über die zwei Staaten lenkt von der rechtlichen Verantwortung israelischer Politik ab.«

Pappé: Zionismus war von Anfang an ein europäisches Projekt

Ähnlich argumentiert auch der israelische Historiker Ilan Pappé in einem Essay für das britische Online-Magazin „DeclassifiedUK“. Pappé zufolge hätten die meisten Palästinenser*innen wenig Vertrauen in die Autonomiebehörde, die den palästinensischen Staat repräsentiere. Da auf der Grundlage der Osloer Verträge 60 Prozent des Westjordanlandes ausschließlich von Israel und weitere 20 Prozent faktisch von Israel kontrolliert werden, handele es sich bei Palästina um einen handlungsunfähigen Staat ohne Territorium.

In Israel wiederum, so der in Großbritannien lehrende Illan Pappé weiter, sei seit der Verabschiedung des Nationalstaatsgesetzes von 2018 festgeschrieben, dass es zwischen Jordan und Mittelmeer nur eine Nation gebe, nämlich die jüdische. Pappé zufolge habe sich in seinem Heimatland eine messianische und rassistische Elite etabliert, von denen einige das Land in eine Theokratie verwandeln wollten. Wenn Europa seine Position zum Nahostkonflikt neubestimmen wolle, müsse es den historischen Kontext betrachten. Es müsse erkannt werden, so der israelische Historiker, »dass der Zionismus von Anfang an ein europäisches Projekt war, das aus der Unfähigkeit Europas im Umgang mit seinem eigenen Antisemitismus geboren wurde und das deshalb der arabischen Welt und den Palästinensern einen europäischen jüdischen Staat aufzwang.« Wie eine gemeinsame Zukunft von Israelis und Palästinenser*innen aussehen könne, müsse – so Pappé – vor allem von den Palästinenser*innen entschieden werden.

Barenboim: »Das Apartheid-System muss beendet werden«

Weniger skeptisch gegenüber der Anerkennung äußert sich der Musiker Michael Barenboim von der Association of Palestinian and Jewish Academics (PJA). Im Gespräch mit »nd« sagte Barenboim: »Eine Anerkennung Palästinas ist besser als keine.« Auch Barenboim misst den Menschenrechts- und Gerechtigkeitsthemen zentrale Bedeutung bei. Gesprochen werden müsse nicht nur über die Lage der Palästinenser*innen im heutigen Israel und den besetzten Gebieten, sondern auch über die etwa sechs Millionen Geflüchteten und ihr Rückkehrrecht. Für entscheidend hält Barenboim die Umsetzung des Völkerrechts: »Das Apartheid-System muss beendet werden. Die Anzahl der Staaten ist dabei zweitrangig«, so der Musiker. »Darüber hinaus wird Israel vom Internationalen Gerichtshof aufgefordert, die unrechtmäßige Präsenz im besetzten Gebiet zu beenden, die Siedler*innen zu evakuieren und Reparationen an Palästinenser*innen zu leisten, die zu Schaden gekommen sind.«

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