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Wo die Staatsschulden herkommen
Wer hat hier über seine Verhältnisse gelebt? Die Staatsverschuldung ist ein Ergebnis alter Krisen und kommender Kriege
In Frankreich könnte die Regierung über ihr Sparprogramm stolpern. Für Großbritannien wird die Verschuldung so teuer wie zu Krisenzeiten. Die deutsche Bundesregierung kündigt einen »Reformherbst« mit Sozialkürzungen an. In den USA wird angesichts der hohen Defizite an der Solidität der Leitwährung US-Dollar gezweifelt. Und die japanische Regierung musste am Donnerstag rekordhohe Zinsen zahlen, um sich zusätzliche Milliarden zu leihen. Staatliche Schulden und Defizite sind Thema Nummer Eins an den Finanzmärkten. Im Kreuzfeuer stehen derzeit allerdings nicht arme Länder des Globalen Südens oder spekulative Börsenpapiere, sondern kapitalistische Weltmächte und ihre Anleihen, die sichersten Geldanlagen der Welt. Mit verschwenderischer Politik oder generösen Sozialleistungen hat das nichts zu tun.
Ergebnis eines Scheiterns
In allen Industrieländern sind die Staatsschulden kräftig gestiegen. Laut Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) liegt die Staatsschuldenquote der Industrieländer inzwischen bei 115 Prozent der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukts, BIP) – das sind über 40 Prozentpunkte mehr als zu Beginn des Jahrhunderts. Die tiefer liegenden Ursachen dafür finden sich allerdings weniger bei der Politik, sondern in der Privatwirtschaft – im Kapitalismus selbst.
Zum einen sind die Schulden Folge eines strukturellen Rückgangs des Wirtschaftswachstums. »Das Produktivitätswachstum ist in vielen fortgeschrittenen Volkswirtschaften seit Jahrzehnten rückläufig und seit Kurzem auch in mehreren Schwellenländern«, erklärt die Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in ihrem Jahresbericht 2025. »Dieser Rückgang spiegelt zum Teil die abnehmenden Produktivitätsgewinne durch neue Technologien wider.« Im Kern bedeutet das: Das Wirtschaftswachstum hat mit der Verschuldung nicht Schritt gehalten. Und zur Finanzierung dieses abnehmenden Wachstums waren immer mehr staatliche Schulden nötig – ohne zusätzliche Kredite wäre es noch schwächer ausgefallen.
Zum anderen ist der sprunghafte Anstieg der Staatsschulden Ergebnis einer Abfolge von Wirtschaftskrisen: »Die globale Finanzkrise und die Corona-Pandemie haben in vielen Volkswirtschaften zu einer höheren Staatsverschuldung geführt«, erklärt die BIZ. Die Schulden der Staaten resultieren also weniger aus verschwenderischer Sozialpolitik, sondern aus dem Versuch von Regierungen, Banken zu retten, das Finanzsystem zu stabilisieren und Abschwünge aufzufangen. Per Kredit stopften Regierungen riesige Lücken, die sich im Unternehmenssektor aufgetan hatten oder die sich aufzutun drohten, sie retteten private Vermögen und kompensierten Ausfälle privater Nachfrage. Die hohen Staatsschulden sind daher schlicht der Spiegel gescheiterter kapitalistischer Geschäfte. Oder in den Worten der BIZ: Nach der Großen Finanzkrise »ersetzten Forderungen gegenüber der Regierung die Kredite an den privaten Sektor als Haupttreiber des gesamten Kreditwachstums«.
Dass nicht nur Regierungen »über ihre Verhältnisse leben«, sondern auch Unternehmen, zeigen die Zahlen der OECD: »Der Schuldenstand der Unternehmen weltweit wächst«, stellt die Organisation fest. In einigen Ländern habe er Rekordhöhen erreicht. Zunächst müsse das kein Problem sein, so die OECD, wenn das geliehene Geld für produktive Investitionen verwendet werde, die das Wachstum und damit die Rückzahlungsfähigkeit erhöhen. Das Problem allerdings sei, dass die ausstehenden Schulden zum Großteil nicht in reale Investitionen geflossen seien, sondern für die Rückzahlung alter Schulden verwendet wurden. Das bedeute auch, dass »sich die ausstehenden Schulden wahrscheinlich nicht durch Erträge aus produktiven Investitionen selbst abzahlen«. Vor diesem Hintergrund dürften die Unternehmen weltweit ihren Schuldenstand eher nicht senken, so die OECD. Stattdessen blieben sie darauf angewiesen, laufend neue Schulden aufzunehmen, mit denen sie auslaufende Schulden abbezahlen. kau
Die Krise im Kern
Ein globaler Wirtschaftsboom ist nicht in Sicht, gleichzeitig wachsen absehbar die Ausgaben für Aufrüstung und Ertüchtigung der Standorte. Folge: Die Staatsschulden steigen weiter. Laut Prognosen des Internationalen Bankeninstituts IIF legen sie bis 2028 weltweit um 35 Prozent auf 130 Billionen Dollar zu, angetrieben vor allem von den USA. Folgen sind kleinere Krisen und wachsende Zweifel an der Solidität von Ländern, die zu den kapitalistischen Kernnationen gehören – jene Länder, deren Kriege Weltkriege sind und deren Krisen globale Krisen.
Zum Beispiel Frankreich, ein eigentlich »angesehener Kreditnehmer, der mittlerweile mit einer Risikoprämie in Verbindung gebracht wird«, so EZB-Chefin Christine Lagarde. Grund: Die Regierung in Paris hatte ein Sparpaket für 2026 vorgelegt, das angesichts des politischen Drucks nicht durchsetzbar ist. Die Regierung steht vor dem Sturz. In der Folge steigen die Zinsen, die Paris seinen Gläubigern für neue Schulden zahlen muss. »Die Märkte bewerten Risiken, und wir haben in den letzten Tagen einen Anstieg des Länderrisikos beobachtet«, sagte Lagarde.
Oder Großbritannien: Dort sieht sich die Finanzministerin mit einem Haushaltsloch von rund 50 Milliarden Pfund konfrontiert. Diese Woche erreichten die Renditen 30-jähriger britischer Anleihen den höchsten Stand seit 1998, was den Druck auf die Regierung erhöht, das Vertrauen der Anleger zurückzugewinnen. Die Zeitung »The Sunday Telegraph« warnte bereits, das Land »steuert auf eine Rettungsaktion durch den IWF zu«.
Oder die USA, wo die Staatsschulden laut Schätzungen bis 2035 auf 120 Prozent des BIP steigen könnten. Das nährt Zweifel an der Solidität der Weltleitwährung: »Der US-Dollar nähert sich einer Vertrauenskrise«, so ING. Und angesichts steigender Zinsen für US-Staatsanleihen (Treasuries) titelt die »Financial Times«: »Beten Sie für den US-Treasury-Markt«. Die Gefahr droht also in den sicheren Häfen des Weltkapitals. Der Handel mit langfristigen Wertpapieren aus Frankreich, Großbritannien und den USA befinde sich »in einer fragilen Lage«, sagte Gita Gopinath, Chefvolkswirtin des IWF. »Die Verschuldung ist unglaublich hoch – und sie steigt weiter.«
Rüstung auf Kredit
Die großen Industriestaaten nehmen derzeit Darlehen auf, um Handelskriege und Steuersenkungen zu finanzieren, um ihre Standorte wettbewerbsfähig zu machen, um die Konkurrenz technologisch abzuhängen, um Rohstoffquellen zu sichern – vor allem aber, um ihr Militär aufzurüsten. Beispiel Deutschland: Bis 2029 soll der Rüstungsetat auf 153 Milliarden Euro steigen, das ist das Dreifache des 2024er Wertes. Dazu kommt militärische Infrastruktur über 70 Milliarden Euro. Das reißt riesige Löcher in den Etat, die per Verschuldung gestopft werden. Die steigende Verschuldung lässt die Ausgaben für Zinsen steigen: Der entsprechende Etatposten wächst von 44 auf 72 Milliarden Euro. Oder anders gesagt: Machten Ausgaben für Rüstung (ohne Infrastruktur) und Zinsen 2024 noch 20 Prozent des Bundeshaushalts aus, so sollen es 2029 fast 40 Prozent sein.
Den Kreditbedarf der Regierungen nutzen die Kreditgeber, die Anleger an den Finanzmärkten, um immer höhere Zinsen zu verlangen, was die Schulden weiter in die Höhe treibt. Da Länder wie Frankreich für Zinsen inzwischen fast so viel ausgeben wie für die Rüstung, gilt es, die Zinsen möglichst niedrig zu halten, um mehr Geld fürs Militär zur Verfügung zu haben. Die Regierungen werben daher um das Vertrauen der Märkte, damit ihre Aufrüstung nicht ihre Kreditwürdigkeit beschädigt. »Die Rendite französischer 30-jähriger Staatsanleihen ist derzeit die höchste seit 2008. Wir befinden uns in einer neuen Welt«, so Robin Brooks, Ex-Chefvolkswirt des IIF. »Derzeit gibt es keinen Spielraum für hohe Defizite, da die Märkte wenig Interesse an weiteren Schulden haben. Die richtige Antwort darauf sind Reformen.«
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Die Schuld der Lohnabhängigen
»Reformen« sind also nötig, weil die Anleger in Sachen Rendite immer anspruchsvoller geworden sind – das zeigen die steigenden Zinsen wie auch die »himmelhohen Aktienbewertungen« (Gopinath). Um diesen Ansprüchen zu genügen und den Märkten das geschuldete Wachstum zu liefern, bauen Regierungen nun ihre Standorte um. Eine neue Runde »Austeritätspolitik« steht an, alles gerät ins Visier, was bloß den Menschen nützt, aber nicht dem Bruttoinlandsprodukt: In den USA wurde Social Security zusammengestrichen, in Großbritannien und Deutschland soll die Arbeitslosenunterstützung gesenkt werden und in allen Ländern gelten die Rentenkassen als Sanierungsfälle. Der Hinweis, Hilfen für Arme oder Kindertagesstätten seien doch ebenfalls Anteile am BIP, ist der Versuch von links, die öffentliche Daseinsvorsorge mit den radikalisierten Anforderungen von Regierungen und der Finanzanlegern zu versöhnen.
»Austerität« bedeutet allerdings nicht bloß Sparpolitik, sondern die Ausrichtung der gesamten Gesellschaft auf die Kapitalrendite. Daher werden Unternehmen und Vermögen entlastet anstatt zur Kasse gebeten. Daher werden Arbeitszeiten verlängert und Umweltauflagen gestrichen. Aufgestockt werden vorsichtshalber auch die Etats für Innere Sicherheit. Schließlich, so warnt die BIZ, könne »eine begrenzte Toleranz der privaten Haushalte gegenüber einem weiteren Rückgang der Realeinkommen dazu führen«, dass Sparhaushalte scheitern. Wie in Frankreich.
Während eine Schuldenkrise in den reicheren Industriestaaten bloß droht, ist sie andernorts längst eingetreten. »Wir befinden uns in einer ernsten globalen Schuldenkrise, vielleicht die schwerste seit den 1980er Jahren«, schreibt Indermit Gill, Chefökonom Weltbank. Schwer sei eine Krise dann, wenn sie unzähligen armen Menschen auf der Welt großen Schaden zufüge – »und nicht bloß dann, wenn die Banken in den Industrieländern straucheln«. Laut UN leben inzwischen 3,3 Milliarden Menschen in Ländern, die mehr für ihren Schuldendienst ausgeben als für Gesundheit und Bildung. Fast 40 Prozent aller Entwicklungsländer leiden laut Weltbank unter einer Form von Schuldenstress. Das liegt auch am Kredithunger der reichen Industrieländer, der die Zinsen weltweit in die Höhe treibt: »Die kreditwürdigsten Regierungen saugen das Kapital der Welt auf«, erklärt David Malpass, Ex-Präsident der Weltbank. kau
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