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Der lange Arm der Sojalobby
Wie Brasiliens Agrarriesen mit Politik und Pestiziden indigene Völker von ihrem Land vertreiben
Der 39-jährige Josenildo dos Santos ist Dorflehrer und vertritt als Kazike, eine Art Dorfvorsteher, die rund 70 indigenen Familien der Munduruku aus Açaizal gegenüber den Behörden, vor Gericht und gegenüber Agrarunternehmen. Letztere bauen in den umliegenden Fazendas, den landwirtschaftlichen Großbetrieben, Soja im Wechsel mit Mais an. Zum Ende des Sommers ist rund um das Dorf vor allem Mais zu sehen. Soja hat einen Wachstumszyklus von gerade einmal vier Monaten, das ergänzt sich gut mit den gelben Kolben, die rund sieben, acht Monate brauchen, bis sie geerntet werden.
Vor allem rund um die Amazonasstadt Santarém erstrecken sich auf einer Hochebene weite agrarindustrielle Ländereien. Der Sojaanbau begann dort im Jahr 1998 – und seither breitet er sich stetig aus. Oft geschieht das auf Flächen, die indigene Gemeinden wie die Munduruku in Açaizal für sich beanspruchen. »Das Gerichtsverfahren um die Landtitel, die wir für Flächen einfordern, auf denen unsere Gemeinde seit rund 100 Jahren leben, läuft seit dem Jahr 2000«, sagt dos Santos. »Große Teile davon sind inzwischen zerstört und mit Soja bepflanzt.«
Am 10. November beginnt in Brasilien die 30. Weltklimakonferenz – mitten im Land, wo der Amazonasregenwald in alarmierendem Tempo schwindet. Unsere Serie zeigt, wie rasant die Entwaldung voranschreitet – und welche Lösungen es für nachhaltiges Wirtschaften gibt.
Der Dorfvorsteher vertritt seine Gemeinde in dem langwierigen Verfahren – unterstützt von der katholischen Kirche. Sie berät nicht nur die Gemeinde Açaizal, sondern mindestens fünf weitere Dörfer in der Region. »Überall dort, wo die Sojabauern entlang der Transamazonica vordringen, geraten Dörfer unter Druck und drohen, verdrängt zu werden«, erklärt Gilson Fernando de Jesús Rego, Agrarwissenschaftler der katholischen Landpastoral, abends in Santarém. Die Fernstraße ist die wichtigste Verkehrsverbindung in der Region.
»Die Sojabauern treten sehr aggressiv auf, roden Land, schaffen Fakten – sie bauen Soja an und versprühen in den vier Monaten zwischen Aussaat und Ernte bis zu 15-mal Pestizide.« Rego spricht vorsichtig. Er lässt sich nicht fotografieren und will eine neue Studie zu den Landkonflikten erst weiterreichen, wenn sie veröffentlicht ist. »Die Sojalobby hat einen langen Arm«, sagt er entschuldigend.
Sojaanbau auf dem Fußballplatz
Der Startschuss für den Sojaanbau im Bundesstaat Pará war der Bau eines Soja-Terminals des US-Konzerns Cargill im Hafen von Santarém. Damit war die Infrastruktur geschaffen, um den Anbau der Pflanze, deren Bohnen auch in Europa vor allem als Viehfutter eingesetzt werden, massiv auszuweiten – auf Kosten des Regenwaldes. Rund um das Dorf Açaizal ist das sichtbar.
Noch vor zehn Jahren war das Dorf mit seinen rund 70 Häusern von dichten Regenwäldern umgeben. Kleinbauern wie Paulo Munduruku jagten dort, sammelten Paranüsse, Früchte und Heilpflanzen. Doch diese Zeit geht zu Ende. Heute lebt ein aggressiver Sojabauer mit seiner Familie im Dorf – und breitet sich immer weiter aus. Vor einigen Monaten forderte er die Dorfgemeinschaft auf, den Fußballplatz zu räumen. »Er sagte, er wolle dort Soja anbauen«, erinnert sich der 62-jährige Munduruku. »Als ich gemeinsam mit einem meiner Kinder widersprach, hat er uns bedroht. Er wurde fast handgreiflich.«
Paulo Munduruku lebt auf einem Grundstück in der Dorfmitte, auf dem mehrere Paranuss- und Obstbäume stehen. Er hat einen Gemüsegarten angelegt, um sich und seine Familie zumindest teilweise selbst zu versorgen. Das war früher, bevor die Sojabauern kamen, deutlich einfacher. »Heute sind wir umzingelt von Soja-Fazendas, die Land okkupiert haben, für das wir einen Landtitel beantragt haben.« Mehrfach wurde der ehemalige Kazike von Sojabauern mit dem Tode bedroht, weil er klar die Verhältnisse benennt.
Bürokratie als Waffe
Das geht vielen Gemeinschaften in den Amazonasregionen Brasiliens so. Sie haben oft ein angespanntes Verhältnis mit den Behörden, die Nachweise verlangen, dass die Familien in der Region schon lange leben, mit der Umwelt nachhaltig umgehen und somit einen berechtigten Anspruch auf das Land haben. Eine solche Bürokratie ist vielen Gemeinden fremd. »Doch ohne Landtitel ist es unmöglich, das Areal, das wir bewohnen, vor dem Zugriff von Agrargesellschaften oder Bergbauunternehmen zu verteidigen«, erklärt Munduruku, macht eine abfällige Geste und blickt zu seinem Nachfolger Josenildo dos Santos hinüber.
Beide sind von der endlosen juristischen Auseinandersetzung zermürbt. Und sie sehen, dass die Sojabauern sich nicht mit solchen Hürden herumschlagen müssen. »Sie kaufen Weideland von Viehzüchtern oder Kleinbauern, verdrängen aber auch Gemeinden wie unsere«, kritisiert dos Santos. »Sie besetzen Flächen – ohne dass der Staat eingreift. Im Gegenteil: Sie erhalten sogar noch Kredite.« Der Grund dafür liegt nahe: Die Sojalobby ist gut vernetzt mit den öffentlichen Institutionen, sie kann die Entscheidungen in den Regionalparlamenten maßgeblich beeinflussen und hat auch im nationalen Parlament in Brasilia eine starke Lobby. Das Agrobusiness kontrolliere die brasilianische Politik finanziell, erklärt Agrarwissenschaftler Rego.
Moratorium ausgesetzt
Tatsächlich okkupieren die Sojabauern kontinuierlich neue Flächen. Zwischenzeitlich bremste das 2006 vereinbarte Sojamoratorium diese Expansion – es sollte den Bohnenanbau auf frisch gerodeten Flächen verhindern. Doch kürzlich wurde das Abkommen ausgesetzt, wodurch Soja erneut zu einem Haupttreiber der Amazonas-Zerstörung geworden ist. Brasiliens Klimaziele geraten damit ins Wanken, und die örtliche Bevölkerung leidet in besonderer Weise unter den agrarindustriellen Mais- und Sojawüsten.
Lehrer dos Santos sorgt sich vor allem um die Gesundheit der Dorfbewohner, wenn in unmittelbarer Nähe der Schule Pflanzenschutzmittel versprüht werden. »Übelkeit, Erbrechen, aber auch Hautausschläge sind die Folge. Hier im Dorf macht sich die Mehrheit Sorgen über die Folgen, die die Pestizide auf unsere Gesundheit haben können.« Bekannt ist, dass Glyphosat unter dem Handelsnamen Roundup im Sojaanbau zum Einsatz kommt. Ob weitere Schädlingsbekämpfungsmittel verwendet werden, ist nicht gesichert. Dazu schweigen die Sojabauern vor Ort.
Skeptisch dürften die Agrarindustriellen aber registriert haben, dass ein Forschungsteam in der Umgebung von Santarém unterwegs war und Interviews sowie medizinische Untersuchungen häufig in der Nähe von Schulen durchgeführt hat. Gezielt wurden Dörfer im sogenannten Soja-Korridor des Bundesstaates Pará besucht, wo der Anbau in den letzten Jahren stark zugenommen hat.
Wissenschaftliche Beweise
»Wir wollen feststellen, ob es Veränderungen bei der örtlichen Bevölkerung gibt«, erklärt Annelyse Rosenthal Figuerredo, Professorin an der Universität von Santarém. »Wir haben bei kognitiven und visuellen Tests leichte Veränderungen im Vergleich zu der Kontrollgruppe aus einem Gebiet ohne Pestizidbelastung festgestellt. Außerdem verändert sich das Blutbild.«
Für Figuerredo sind das deutliche Hinweise auf die negativen Effekte eines umfassenden Pestizideinsatzes. Ein solcher wissenschaftlicher Befund dürfte zwar keine Überraschung sein, aber doch wichtig – nur so können staatliche Stellen aktiv werden. Die Dorfgemeinschaft in Açaizal hofft, mithilfe der Untersuchung künftig größere Abstände zwischen Wohnhäusern und ausbringenden Traktoren durchsetzen zu können. Noch ist die Studie nicht veröffentlicht. Ob sie vor der UN-Klimakonferenz in Belém – die am 10. November beginnt – erscheint, ist unklar.
»Natürlich wissen wir, dass die Studie Aufsehen erregen wird – und dass die Sojalobby versuchen wird, die Ergebnisse und uns als Forschende zu diskreditieren«, sagt Rosenthal Figuerredo. »Wir haben Respekt vor ihr. Aber wir kennen bereits mehrere Schulen, in denen Kinder mit Pestizidvergiftungen in Gesundheitsstationen behandelt werden mussten.«
Auch Lehrer und Kazike Josenildo dos Santos will sich genau auf diese Fälle stützen. »Wir brauchen gute Argumente gegen die Großbauern, die jedes Jahr noch mehr Soja ernten«, sagt er. Im aktuellen Erntejahr waren es 169 Millionen Tonnen – mehr als 16 Millionen Tonnen mehr als 2024. Dieser Zuwachs geht Hand in Hand mit dem Raubbau am Regenwald.
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