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  • Ausstellung zum 7. Oktober 2023

Ausstellung in Berlin: Instrumentalisierte Hamas-Opfer

Im ehemaligen Berliner Flughafen Tempelhof wird die »Nova Music Festival Exhibition« gezeigt

Die Ausstellung arbeitet mit Überwältigungsstrategien, finden Kritiker.
Die Ausstellung arbeitet mit Überwältigungsstrategien, finden Kritiker.

Es dauert lange, bis man die Räume mit der neuen Ausstellung im früheren Flughafen Berlin-Tempelhof betreten kann, obwohl sie zwei Tage nach der Eröffnung ziemlich leer ist. Der Vorplatz des riesigen Nazi-Baus ist abgezäunt. Man muss an Polizisten, Sicherheitskräften, hebräisch sprechenden Männern in Trenchcoats vorbei. Dann Online-Ticket-Check, Ausweiskontrolle und penible Kontrolle mit Metalldektetoren.

Da ist man immer noch nicht bei »Oct 7 06:29am, The Moment the Music Stood Still, The Nova Music Festival Exhibition«, so der Titel der Wanderausstellung, die nun in Berlin Station macht. Im Foyer beginnt es mit einem fünfminütigen Film über das Tanzfestival nahe der Grenze zu Gaza. Junge Menschen berichten von ihrer Euphorie. Als die Sonne am 7. Oktober aufgeht, muss der DJ plötzlich den Strom abdrehen. »Roter Alarm!«, ruft er.

Erst da kommt man durch einen schwarzen Vorhang in die riesige abgedunkelte Flughafenhalle, in der viele Partylichter leuchten. Ausgestellt wird das, was nach dem Massaker des militärischen Arms der Hamas und anderer palästinensischer Milizen auf dem Festivalgelände in der Nähe des Kibbuz Re’im an Gegenständen liegengeblieben war: Zelte, Lichterketten, Kleidung, Schuhe, ausgebrannte Autos. Bei dem Angriff auf das Festival wurden 378 Israelis getötet, davon 344 Zivilist*innen, und weitere 44 in den Gazastreifen verschleppt.

Die grausamen Szenen werden mit wackeligen Handyvideos auf Bildschirmen präsentiert. Manche Menschen wurden kauernd in Bunkern niedergemetzelt. Wie viele von ihnen von der israelischen Armee getötet wurden, konnte bis heute nicht erklärt werden, weil die Netanjahu-Regierung jede unabhängige Untersuchung blockiert.

Viele Video- und Audioclips wurden bereits in den klassischen und in Onlinemedien verbreitet: Ein Bulldozer reißt einen Stacheldrahtzaun nieder, Menschen jubeln. Wer hatte diesen Zaun gebaut und zu welchem Zweck? Wer wurde hier eingesperrt? Die Ausstellung blendet nicht nur den Kontext aus, sondern verweigert ihn.

An einer Wand sind die Fotos aller Todesopfer der Angriffe auf das Festival zu sehen.
An einer Wand sind die Fotos aller Todesopfer der Angriffe auf das Festival zu sehen.

Eine Karte, die zeigt, an welchen Stellen die Ermordeten lagen. In einem einleitenden Text lernt man, dass die bewaffneten Kämpfer wie »Todesengel« gewirkt hätten. Die jüdisch-kanadische Autorin Naomi Klein schrieb, die Ausstellung, die bereits in etlichen US-Metropolen gezeigt wurde, erzähle »ein einfaches Märchen über Gut und Böse«. Immersive Techniken sollen Besucher*innen nachfühlen lassen, was die Opfer durchlebten.

Nach Ansicht von Naomi Klein kann diese Form des Gedenken, die auf Überwältigung statt auf Reflexion setzt, nicht von der israelischen Politik getrennt werden. Schuhe vom Nova-Festival werden auf einem Tisch präsentiert: Die gewollte Assoziation zur KZ-Gedenkstätte Auschwitz ist nicht zu übersehen. Wenn das Massaker eine Neuauflage des Holocausts wäre, müsste absolut jede Reaktion, auch Rache, angemessen sein, scheint das auszusagen.

Aber lässt sich das, was viele ebenfalls als »genozidalen Angriff« bezeichnen, als eine Fortsetzung der Shoah darstellen? Naomi Klein schlägt eine ganz andere Analogie vor: Die Geschichte sei »voller Kapitel, in denen indigene Völker«, die von »kolonialer Unterdrückung« betroffen gewesen seien, »rebellierten, wobei diese Rebellionen mit Gräueltaten einhergingen«. Demnach wären die Angriffe des 7. Oktober 2023, deren Opfer vor allem Zivilisten waren, vergleichbar beispielsweise mit dem Aufstand der Herero in Deutsch-Südwestafrika. Zu dessen Beginn hatten Herero-Kämpfer mehr als 100 deutsche Siedler*innen massakriert, einschließlich Frauen und Kinder. Mit Taten wie dieser rechtfertigten die Deutschen den Genozid an Herero und Nama.

»In Berlin sind es nichtjüdische Deutsche, also Erben von Nationalsozialismus und Holocaust, die über die Ausstellung in die Rolle jüdischer Opfer schlüpfen können.«

Ben Ratskoff Professor für kritische Theorie in Los Angeles

In einem Interview im zweisprachigen jüdischen Magazin »The Diasporist« machte Ben Ratskoff, Professor für kritische Theorie in Los Angeles, auf ein besonderes Problem im deutschen Kontext aufmerksam: »Hier sind es nichtjüdische Deutsche, also Erben des Nationalsozialismus und Holocaust, die sich über die Ausstellung in die Rolle jüdischer Opfer schlüpfen können.«

In der Ausstellung wird auch gezeigt, dass Überlebende Sporttherapie bekommen, dass für sie Benefizkonzerte veranstaltet werden. Die Darstellung der Folgen der Angriffe des 7. Oktober beschränkt sich allerdings allein auf sie. Gab es sonst keine Folgen der Massaker, über die nachzudenken wäre? Immerhin werden mit den Verbrechen der Hamas-Angreifer seither ungezählte israelische Kriegsverbrechen, die Tötung von mindestens 70 000 Palästinenser*innen und Verletzung und Verstümmelung von mindestens 130 000 weiteren gerechtfertigt.

Wie generell im Rahmen der deutschen Staatsräson, so ist auch im Kontext der Ausstellung Empathie ausschließlich für die Opfer des 7. Oktober in Israel vorgesehen. Eine Wand mit den Gesichtern von 378 Toten erstreckt sich über Dutzende Meter. Wie lang wäre eine Wand für die über 1000 palästinensischen Babys unter einem Jahr, die in den darauffolgenden zwei Jahren in Gaza ermordet wurden? Wie müsste die Wand für alle Opfer in Gaza sein? Doch Gedenkveranstaltungen für palästinensische Opfer des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern dürften in Deutschland nicht vorgesehen sein. Stattdessen darf die Polizei in deutschen Städten große Härte gegen propalästinensische Demonstrationen zeigen.

Selbst die »Zeit« kritisierte in ihrem Bericht zur Ausstellungseröffnung in Berlin einerseits die quasi-religiöse Sprache in Texten über die Opfer, die nun »schöne Engel« seien, die »im Himmel« weitertanzen. Andererseits konstatiert Autorin Ann-Kristin Tlusty, dass keine Rednerin und kein Redner – weder Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) noch der israelische Botschafter Ron Prosor, der arabisch-israelische Aktivist Yoseph Haddad, der Nova-Mitgründer Ofir Amir oder Moderatorin Melody Sucharewicz – ein Wort »über die derzeitige Situation in Gaza« verlor.

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