Verstummt und vergessen?

Eine Ausstellung im Berliner Centrum Judaicum fragt nach dem Ende der Zeitzeugenschaft

Ja, ich habe viele Deutsche getötet», berichtet Samuel Makower stolz. Der gebürtige Pole hatte sich nach seiner Flucht aus dem Ghetto Minsk einer belorussischen Partisanengruppe angeschlossen, verübte Anschläge auf Soldaten und Militärzüge der Wehrmacht, gelangte mit der Roten Armee im Frühjahr 1945 nach Berlin und fand nach der Befreiung vom Faschismus seine von den Nazis verschleppte Familie in einem Lager für Displaced Persons (DPs, heimatlose Ausländer) wieder. Ein Glück, das nur wenigen Juden beschieden war.

Charlotte Kahane aus Lwiw vermisst noch heute schmerzlich ihre zwei, von deutschen Antisemiten ermordeten Brüder. Die Erzählung fällt ihr schwer, immer wieder versagt ihr die Stimme. Ebenso ergeht es Rita Kuhn, die sich an ihre Freundin aus terrorüberschatteten Kindheitstagen erinnert, Mira, mit 15 Jahren ermordet, die als Epileptikerin Opfer des «Euthanasie-Mordprogramms der Nazis geworden ist.

Markower entscheidet sich 1948, im Land des einstigen Feindes zu studieren, und wird dort von der Vergangenheit eingeholt. Sein Chemieprofessor beklagt, ein Kurzurlaub in der Heimat sei ihm im Krieg von Partisanen vereitelt worden. Als er Ort und Zeit nennt, lässt ihn der Student aus Polen wissen: »Das waren wir, das war ich.«

Was geschieht, wenn es die Zeitzeugen nicht mehr gibt? Diese Frage treibt schon seit einigen Jahren die ob zunehmender rechtsradikaler Gewalt und erstarkten Rechtspopulismus besorgte demokratische Öffentlichkeit um. Und dieser Frage nimmt sich jetzt auch die neue Ausstellung im Berliner Centrum Judaicum an. Sie geht auf eine Initiative des Jüdischen Museums im österreichischen Hohenems zurück, kuratiert von der dort tätigen Wissenschaftlerin Anika Reichwald mit Unterstützung von Kollegen der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Die Exposition war bereits in München und Augsburg zu sehen, jeweils um ein lokalspezifisches Kapitel ergänzt. So nun auch in der Neuen Synagoge in der deutschen Hauptstadt. Den Berliner Bezug steuerte Alina Gromova bei. Anja Siegemund, Direktorin der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, nennt die 1980 im ukrainischen Dnipropetrowsk geborene Historikerin eine wertvolle Bereichung ihres Teams.

Während die eingangs zitierten, auf Videoleinwand und Bildschirmen zu sehenden und zu hörenden Zeitzeugen von international renommierten Institutionen, darunter der Shoah Foundation und des Holocaust Memorial Washington, interviewt worden sind, wurden die im Berliner Teil zu erlebenden sechs Juden und Jüdinnen eigens für diese Schau befragt. Der Älteste, 1933 in Moskau geboren, übersiedelte 1994 nach Berlin; der Jüngste ist ein Jahr nach seiner Geburt 1991 im tadschikischen Duschanbe mit seiner Familie in die deutsche Hauptstadt gekommen. Die sechs Juden und Jüdinnen reflektieren vornehmlich jüdisches Leben nach der Shoah, beschwert von den Traumata der Eltern oder Großeltern sowie neuem Antisemitismus.

Zu jenen, die noch authentisch Zeugnis von Ausgrenzung, Repression, Verfolgung, Emigration oder Deportation ablegen können, gehört Horst Selbiger. 1928 als Sohn eines jüdischen Zahnarztes und einer nichtjüdischen Mutter in Berlin geboren und 1943 mit seinem Vater verhaftet, entging er dank des berühmten mutigen Protestes in der Rosenstraße der Deportation. Nach der Befreiung vom Faschismus engagierte er sich in der DDR als Journalist für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. 1953 jedoch aus der SED ausgeschlossen und mit Berufsverbot belegt, wanderte er 1964 in die Bundesrepublik aus. Selbiger sieht es als seine Verpflichtung an, Jugendlichen seine Erlebnisse unterm Hakenkreuz zu vermitteln, so lange ihm dies noch möglich ist.

Dieser Aufgabe hatte sich bis zu seinem Tod 2020 auch Hellmut Stern mit aller Kraft gewidmet. Der Musiker, der sich gern augenzwinkernd als »Berufszeitzeuge« bezeichnete, hatte im chinesischen Exil deutschen Judenhass überlebt, gehörte in Israel dem Philharmonic Orchestra Tel Aviv an, bevor er nach nach seiner Übersiedlung im Jahr des Mauerbaus Mitglied der Berliner Philharmoniker wurde. Verstummt ist inzwischen, im vergangenen Jahr, auch die Stimme von Walter Kaufmann, der an seinem 15. Geburtstag auf »Kindertransport« ging, in England Zuflucht fand, im Zweiten Weltkrieg in der australischen Armee gegen den japanischen Faschismus kämpfte und in der DDR als Schriftsteller wirkte.

Nur 8000 Berliner Juden und Jüdinnen überlebten die Shoah, 1700 als sogenannte U-Boote in Verstecken oder dank »Stiller Helfer«, wie in Forschung und Publizistik heute jene Deutschen genannt werden, die in Zeiten der Unmenschlichkeit und unbarmherzigen Terrors Menschlichkeit, Anstand und Courage bewiesen.

Was, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? Vermögen die von ihnen nachgelassenen Publikationen, Memoiren oder Interviews die gleiche emotionale Wirkung zu vermitteln wie deren unmittelbare Erzählung zu Lebzeiten? Die Ausstellung diskutiert die »Gemachtheit« der Interviews, die Rolle der Interviewer und die Intentionen der Interviewten ebenso wie die jeweilige gesellschaftliche Erwartungshaltung. Und fragt: Was, wenn Zeitzeugen nicht mehr an der Kommunikation über ihre Erinnerung teilnehmen können, nicht mehr Einspruch erheben können in Bezug auf die Interpretation und den Gebrauch ihrer Zeugnisse? Eine offene Frage. Es bleibt zu hoffen, dass sie im Sinne der Opfer und einer wehrhaften demokratisch verfassten Gesellschaft beantwortet wird. Um dies zu ermöglichen, sind vermehrt Anstrengungen vonnöten. Die Ausstellung mahnt, indem sie auch offenbart, wie fatal sich Schweigen, Verdrängen, Vergessen auswirken kann.

Erste Zeugnisse über den Genozid an den Juden wurden bereits während des Zweiten Weltkrieges gesammelt. Dafür steht das Ringelblum-Archiv, eine Sammlung von über 6000 Dokumenten aus dem Warschauer Ghetto, angelegt von einer Gruppe polnischer Juden in diesem Ghetto, die geleitet wurde vom Historiker Emanuel Ringelblum, der 1944 von den deutschen Besatzern erschossen worden ist. Als ein frühes Zeugnis präsentiert die Ausstellung auch einen Bericht im US-amerikanischen »Life Magazine« über das im Frühsommer 1944 von der Roten Armee befreite Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek bei Lublin. Erinnert wird an den polnisch-jüdischen Filmemacher Alexander Ferst, der den Majdanek-Prozess, den ersten Prozess gegen Nazi- und Kriegsverbrecher überhaupt, auf Zelluloid festhielt.

Die ersten schriftlichen Aufzeichnungen und Befragungen erfolgten durch Shoah-Überlebende selbst. Die deutsche Gesellschaft war mehrheitlich desinteressiert, wollte die in ihrem Namen und durch ihr Mittun erfolgten Gräuel nicht wahrnehmen, schon gar nicht verantworten. »Lang ist der Weg« von 1948 fokussierte als erster Spielfilm im Nachkriegsdeutschland das Schicksal jüdischer Überlebender. Im Mittelpunkt des polnischen Spielfilms »Die letzte Etappe« aus dem gleichen Jahr von Wanda Jakubowska, fußend auf eigenen Erlebnissen, steht eine Frau, die sich in Auschwitz dem Widerstand anschloss, bei einem Fluchtversuch eingefangen, zum Tode verurteilt wurde und dank des Eintreffens der Sowjeetarmee in buchstäblich letzter Minute gerettet wird.

1950 erschien erstmals das Tagebuch der Anne Frank. Es fand in der Bundesrepublik zunächst kaum Beachtung, wie Vater Otto Frank, einziger Überlebender der aus Frankfurt am Main stammenden und in Amsterdam verhafteten Familie, in einem Brief beklagte. Anders in der DDR, auch wenn dort der Blick vornehmlich auf den kommunistischen Widerstand gerichtet war, wie in der Ausstellung durchaus zu Recht vermeldet wird. Dies trifft allerdings nicht durchgehend zu. Und auch der millionenfache Mord an den europäischen Juden ist in der DDR wesentlich früher als in der Bundesrepublik thematisiert worden, sei es in Film, Literatur oder Denkmalkunst. Dafür steht nicht nur der Roman von Bruno Apitz »Nackt unter Wölfen«.

Es verwundert allerdings, warum hier zum 1958 eingeweihten Buchenwald-Denkmal von Fritz Cremer moniert wird, dass es »eine Gruppe von Häftlingen als triumphierende Helden darstellt«. Ja, die Überlebenden durften triumphieren. Und haben dennoch mehrheitlich ihre Peiniger nicht überlebt, wie unzähllige Beispiele von Tätern belegen, die nicht ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden, in der Bundesrepublik noch lange lukrative Ämter innehatten und stattliche Pensionen bezogen. 101 Jahre zählt der jetzt in Brandenburg an der Havel verurteilte KZ-Aufseher. Der SS-Mann ist der Beihilfe zum Mord in 3500 Fällen angeklagt und dafür zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Dass die Täter die Rache der Überlebenden befürchten mussten, wie in westlichen Comics noch in den 60er Jahren visioniert, dürfte bei dem eklatanten Versagen bundesdeutscher Justiz nicht überraschen. Solche gab es jedoch nur in Einzelfällen und auch nur unmittelbar nach dem Krieg.

Natürlich fehlen in der Ausstellung nicht die beiden Auschwitz-Prozesse, iniitiiert vom hessischen Generalsstaatsanwalt Fritz Bauer wider etliche Widerstände. Bereits in den 50er Jahren, aber auch noch hernach durften ungehindert und oft unwidersprochen Träger des NS-Systems ihre giftigen Rechtfertigungslegenden verspritzen; ausgelegt sind in der Ausstellung stellvertretend die Machwerke von Albert Speer, Karl Dönitz und Baldur von Schirach.

Erst mit der Erstausstrahlung der US-amerikanischen Serie »Holocaust« 1979 setzte ein Umdenken in der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft ein. Als 1990 »Schindlers Liste« ausgestrahlt wurde, musste man hingegen in dem sich »wiedervereinigenden« Deutschland neuerlichen Rechtsruck befürchten. Eine Befürchtung, die sich leider bewahrheitete. Was auch Unachtsamkeit oder Unwillen staatlicherseits verschuldet war und ist, mitunter durch Behördenentscheide flankiert oder gefördert wurde und wird. Worauf die Zeitzeugen immer wieder hinwiesen. Man denke an die berechtigte Empörung der Überlebenden vor drei Jahren über die Aberkennung der Gemeinnützigkeit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN – BdA) durch eine Berliner Finanzinstitution; zu jenen, die damals vehement protestierten und Offene Briefe an den seinerzeitigen Bundesfinanzminister Olaf Scholz schrieben, gehörte die im Sommer 2021 verstorbene Hamburgerin Esther Bejarano vom Mädchenorchester in Auschwitz.

Heute obliegt es den Kindern und Enkeln, zu intervenieren, wenn gefährlich-rechtes Gedankengut in Medien, Publizistik oder gar Politik kolportiert und derart rechtsradikalen, antisemitischen Untaten Nahrung geboten wird. Die Ausstellung informiert darüber, dass sich die Angehörigen der zweiten und dritten Generation schon in den 80er Jahren verstärkt zu Wort meldeten. Es ist eine neue Zeitzeugenschaft, die mit dem Ringen um die eigene Identität verknüpft ist. Darob nicht weniger wichtig und wertvoll. Die junge Generation, vor allem in Israel und in den USA, stellt auch »kritische Fragen an die gesellschaftliche Überhöhung des Holocaust und seine ideologische Instrumentalisierung«, liest man in der Ausstellung, die andererseits nicht verschweigt, dass es auch Versuche missbräuchlicher Behauptung einer Verfolgtengeschichte gab; spektakulär 1998 der Schweizer »Fall Wilkomirski«.

Eine Wand mit Zitaten von Wissenschaftlern zur Bedeutung authentischer Zeugenschaft beschließt die sehenswerte Exposition. Das vielfach durch die Medien wabernde Wort vom Zeitzeugen als schlimmstem Feind des Historikers findet man hier dankenswerterweise nicht.

»Für uns, für die Zeugen der Zeitzeugen, bleibt es eine Pflicht, das Gehörte weiterzutragen«, erklärte Claudia Roth (Grüne) zur Eröffnung der Ausstellung am Mittwochabend. »Dazu gehört nicht nur, die Sorgen der Menschen jüdischen Glaubens ernst zu nehmen, sondern sich Antisemitismus und antisemitischen Ressentiments glaubwürdig entgegen zu stellen.« Die Staatsministerin für Kultur und Medien betonte: »Wir werden im Kampf gegen den Antisemitismus so wenig nachgeben wie im Bemühen um Aufklärung und Vermittlung.« Möge es so sein.

»Ende der Zeitzeugenschaft«, bis 8. Januar 2023, Neue Synagoge, Oranienburger Str. 28, 10117 Berlin.

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