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  • 50 Jahre Putsch gegen Salvador Allende

Chile: Der Traum vom demokratischen Sozialismus lebt weiter

Die chilenische Kommunistin Tania Concha Hidalgo erlebte den Sturz von Salvador Allende und hält an seinem Vermächtnis fest

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 9 Min.
Tania Concha Hidalgo hat die Gewaltherrschaft von Augusto Pinochet als Kind erlebt. Ihre Mutter wurde nach dem Putsch als Bürgermeisterin von Coronel abgesetzt, wenig später gefangen genommen und gefoltert.
Tania Concha Hidalgo hat die Gewaltherrschaft von Augusto Pinochet als Kind erlebt. Ihre Mutter wurde nach dem Putsch als Bürgermeisterin von Coronel abgesetzt, wenig später gefangen genommen und gefoltert.

Es ist 50 Jahre her, doch die Ereignisse sind ihr unmittelbar präsent. Tania Concha Hidalgo war knapp sechs Jahre alt, als in Chile gegen Salvador Allende geputscht wurde. Und sie war gewissermaßen mittendrin, denn ihre Mutter Norma Hidalgo war Bürgermeisterin in der Stadt Coronel, die vom Bergbau lebte und Hochburg des Präsidenten Salvador Allende war.

Norma Hidalgo saß im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chiles, die Teil der Unidad Popular war, in der sich Sozialisten, Kommunisten und kleinere Linksparteien zusammengeschlossen hatten, um Allende an die Regierung zu verhelfen. Als Kommunistin war Norma Hidalgo im Visier der Schergen von Augusto Pinochet, des Generals und Putschistenführers.

»Kurz nach dem Putsch auf der Flucht von Concepción nach Santiago habe ich meine Mutter, die aus der Haft in Hausarrest entlassen worden war, fast ein zweites Mal verloren«, erinnert sich Tania Concha Hidalgo im Gespräch mit dem »nd« während eines Besuchs in Berlin. In der Wartehalle sei nach dem Kauf der Zugtickets nach Santiago ein Geheimdienstmitarbeiter auf sie zugekommen: »Meine Dame, sie sehen ja aus wie die Bürgermeisterin von Coronel.« »Ach ja? Aber leider bin ich es nicht«, habe ihre Mutter schlagfertig geantwortet. Sie hatte sich wohlweislich die Haare geschnitten und gefärbt, um nicht einfach erkannt werden zu können. »Gezittert hat sie nicht beim Antworten, und ich habe ihr ganz fest die Hand gedrückt«, erzählt Tania Concha Hidalgo, als sei es gestern gewesen. Und wie es die Ironie der Geschichte manchmal will, exakt in dieser ehemaligen, inzwischen umgestalteten Halle in Concepción tagt heute das Parlament der Region Bío-Bío, dem Tania Concha Hidalgo angehört.

»Ich war von klein auf immer dabei, meine Mutter wurde mit 24 Jahren Gemeinderätin, 1971, mit 28 Jahren Bürgermeisterin. Ich kann mich an ein Treffen mit der ersten Kosmonautin Valentina Tereschkowa erinnern, die Chile besuchte, an Fidel Castro, der die Kumpels in der sogenannten Kohlezone besuchte. Es war üblich, dass die Kinder bei allen politischen Aktivitäten ihrer Mütter dabei waren, dass die ganzen Familien bei politischen Treffen anwesend waren.«

Die politische Bildung sei damals viel höher gewesen als heute, wo laut Studien 80 Prozent der Chilen*innen Schwierigkeiten mit dem Leseverständnis hätten. Damals seien die Arbeiter*innen erpicht auf autodidaktische Fortbildung gewesen, es gab Lesezirkel, es gab Diskussionen auf hohem Niveau. »Wenn ich mir heute Dokumentationen aus dieser Zeit anschaue, käme ich nicht darauf, dass die versierten Redner vielfach kaum formelle Schulbildung hatten«, schwelgt die 55-Jährige in Erinnerungen an die Zeit, in der in Chile am Aufbau eines demokratischen Sozialismus gearbeitet wurde, unter Führung des 1970 mit einer knappen Mehrheit zum Präsidenten gewählten Salvador Allende.

»Wir haben alle geweint bei der letzten Rede von Salvador Allende, der wir zu Hause in Coronel gebannt gelauscht haben«, rekapituliert sie den historischen 11. September 1973. Allende zog Bilanz des welthistorisch erstmaligen Versuchs einer friedlichen revolutionären Umgestaltung eines Landes, von der er zu Regierungsantritt gesagt hatte: »Wir werden uns auf den Weg zum Sozialismus begeben, ohne Bruderkrieg und Blutvergießen. Ein Sozialismus mit Wein und Teigtaschen (Empanadas).« An diesem Traum hielt er auch im Angesicht des Putsches fest: »In diesem düsteren und bitteren Augenblick, in dem sich der Verrat durchsetzt, sollt ihr wissen, dass sich früher oder später, sehr bald erneut die breiten Avenidas auftun werden, auf denen der würdige Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht.«

»Meine Eltern hofften wie viele, dass die Militärdiktatur von Augusto Pinochet nicht lange dauern würde«, blickt Concha Hidalgo zurück. Doch immer mehr Bekannte und Freunde rieten ihrer Familie, das Land zu verlassen. Zu prominent waren die bereits am 13. September 1973 ihres Amtes enthobene Bürgermeisterin und ihr ebenfalls in den Reihen der KP agierender Ehemann Santiago Concha Pérez, Tanias Vater.

Norma Hidalgo wurde vorgeworfen, in den »Plan Zeta« verwickelt zu sein und versteckte Waffen zu besitzen. Sie durchlitt Verhaftung und Folter. »Wir zogen von Kommissariat zu Kommissariat, um sie nach ihrer Verhaftung am 22. September zu suchen. Wir haben sie zufällig gefunden, als sie von einem Verhör zu einem anderen gebracht wurde, die Stimme meiner Großmutter hörte und rief: ›Mutti, ich bin hier.‹« Weil sie so beliebt war, gab es eine große Solidaritätsaktion. Im November 1974, nach fast einem Jahr Haft und Folter, wurde sie in den Hausarrest entlassen.

»Nur das Exil konnte meiner Familie Sicherheit bringen.« Concha Hidalgo erzählt von einer abenteuerlichen Flucht: »Am Anfang wurde meine Mutter ein paar Tage von Bergarbeitern in Öfen versteckt.« Danach ging es mit dem Zug nach Santiago, dort mithilfe des Roten Kreuzes in die französische Botschaft und von dort mit einem Asylpass nach Frankreich. »Das Flugzeug nach Paris war voller Chilenen, alle haben beim Blick auf die Anden geweint, weil sie nicht wussten, ob und wann sie je wieder nach Hause kommen würden.«

In Frankreich ging Concha Hidalgo zur Schule, sechs Monate dauerte der Aufenthalt. Dann zog sie weiter in die DDR. »Mein Vater hatte 1968 in der Jugendhochschule der DDR in Bogensee studiert. Dadurch ergab sich die Möglichkeit, in die DDR zu gehen.« Die Jahre dort hätten sie sehr geprägt – und nicht nur sie. »Ich bin mir sicher«, meint sie, »dass die Investitionen in den Kinderkrippen und in die Schulen während der Präsidentschaften von Michelle Bachelet (2006-2010 und 2014-2018) in Chile sehr von ihren Erfahrungen aus der DDR inspiriert waren.« Auch die Sozialistin Bachelet lebte in ihren Zwanzigern von 1975 bis 1979 im Exil in der DDR. Für sich selbst würde Concha Hidalgo das auch reklamieren, wenngleich der Anfang schwer war: »Du kommst an und hast alles zurückgelassen, deine Freunde, dein Land.« Aber sie hat sich schnell eingewöhnt. Sie ging in den Kindergarten und lernte dort Deutsch. Auch ihre Eltern fühlten sich trotz Heimwehs wohl, aber sie hatten den sehnlichen Wunsch, so bald wie möglich in Chile am Wiederaufbau des demokratischen Sozialismus mitzuwirken.

»Von Eisenhüttenstadt ging es nach Frankfurt an der Oder und dann nach Berlin, weil meine Mutter in der Internationalen Demokratischen Frauenföderation mitarbeiten sollte. Mein Vater arbeitete in Berlin in einem Möbelkombinat bis er von der Partei gebeten wurde, sich um die Koordination der Exil-Chilenen zu kümmern«, blickt sie im Schnelldurchlauf auf die Anfänge in der DDR zurück. »Meine Mutter hat dann mit einer Arbeit über das Scheitern der Unidad Popular von Allende, des Streits in der Linken und der Zersplitterung der Kräfte promoviert.« Sie arbeitete als wissenschaftliche Assistentin in Leipzig am Lehrstuhl von Manfred Kossok.

Das »Nein« beim Plebiszit am 5. Oktober 1988 zu einer weiteren Amtszeit von Pinochet markierte den Anfang vom Ende der Diktatur in Chile. Für Tanias Eltern war klar, dass sie nun so schnell wie möglich zurückkehren wollten. Gladys Marín, die Generalsekretärin der KP, hatte die beiden dazu aufgefordert, schildert Concha Hidalgo die damalige Lage. Doch zurückkehren konnte nur, wer kein L in seinem Reisepass stehen hatte, das eine Wiedereinreise unmöglich machte. Ab 1984 veröffentlichte die Pinochet-Diktatur Listen mit Personen, wo der Eintrag nach Gutdünken wieder gestrichen wurde. Tanias Vater stand 1988 drauf, 1989 auch die Mutter.

Am 9. November 1989 stand ein Flug nach Santiago an. »Sie stiegen morgens in Schönefeld ins Flugzeug ein, und als sie in Chile ankamen, war in Berlin die Mauer gefallen.« Tanias Vater hatte ihr eine Flasche Whiskey für die traurigen Momente dagelassen, am Abend des 9. November griff sie in Gedanken an ihre nach Chile gereisten Eltern auf sie zurück, als das Telefon pausenlos klingelte: »Tania, hast Du es gecheckt, wir dürfen jetzt rüber.« Tania Concha Hidalgo durfte das auch vorher schon, wenngleich es oft mit stundenlangem Warten bis zum Erteilen der Erlaubnis verbunden war.

Der 9. November 1989 war für Tanias Eltern nach der Ankunft in Chile ein doppelter Schock: Sie erkannten das Land und seine von der Diktatur geprägten Menschen kaum wieder und in ihrer lieb gewonnenen zweiten Heimat DDR stand erkennbar ein drastischer Umbruch bevor. »Meinen Eltern ging es in Chile die erste Zeit richtig schlecht, sie hatten Depressionen angesichts des total veränderten Landes.« Auch materiell habe es für Rückkehrer links der Sozialistischen Partei keine Unterstützung durch den Staat gegeben. Bei Tania reifte der Entschluss, trotz ihres unbeendeten Medizin-Studiums und ihrer Verbundenheit zur DDR ebenfalls nach Chile zurückzukehren. »Die Eltern sind mir wichtiger als alles andere, ich gehe zurück«, entschied sie.

Doch auch sie merkte, wie sehr sie die DDR geprägt und Chile sich verändert hatte. »In der DDR bin ich mit Gleichberechtigung groß geworden, das Recht zu entscheiden, ich will jetzt Kinder oder ich will jetzt keine Kinder, war selbstverständlich. In Chile gab es ein striktes Abtreibungsverbot.« Der alltägliche Machismo ging ihr auf die Nerven, und alles, was mit Denken zu tun hatte, war an der Universität verboten worden: »Philosophie, Psychologie, Politologie und Soziologie.« Verboten waren auch Demonstrationen und das Singen von Liedern des 1973 ermordeten Víctor Jara. Dass dessen Lieder nicht vergessen sind, habe sich dann bei der Rebellion der Jugend 2019 gezeigt: »Venceremos (Wir werden siegen) und Un pueblo unido (Ein geeintes Volk) waren überall zu hören«, freut sich Concha Hidalgo rückblickend auf diese Zeit der Revolte. Sie selbst war zwar mit elf Jahren dem kommunistischen Jugendverband beigetreten, sie wollte aber lange Zeit nicht in die Fußstapfen ihrer Eltern treten und sich aus dem politischen Geschäft heraushalten. »Doch dann kam mir die Einsicht, nur durch Politik lässt sich etwas verändern.« Inzwischen sitzt sie im Zentralkomitee der Partei und als wiedergewählte Regionalrätin für die Region Bío-Bío in Concepción.

Das Ziel des demokratischen Sozialismus gibt sie nicht auf. Doch dafür müssten weltweit die Kräfte gegen Rechts gebündelt werden und mit Empathie für die Menschen von unten für einen neuen Anlauf geworben werden. »Allendes Programm ist heute noch so aktuell wie damals, es bedarf noch der Ergänzung um die Ökologie«, ist Concha Hidalgo überzeugt. Dass der Weg weit ist, zeigt der Kampf um eine neue Verfassung für Chile. Der progressive erste Entwurf wurde per Plebiszit im September 2022 abgelehnt. Derzeit arbeitet der Verfassungsrat an einer moderateren Variante, über die am 17. Dezember wiederum per Plebiszit abgestimmt wird. Für Tania Concha Hidalgo ist klar. »Jede Verfassung, die die Pinochet-Verfassung ersetzt, ist ein Schritt in die richtige Richtung.« Bis zu einem neuen demokratischen Sozialismus sind noch viele weitere zu gehen.

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