Kennen sie Kant?

Gegen die Verflachung der Welt

Es ging wieder mal sehr politisch zu auf der Leipziger Bücherschau.
Es ging wieder mal sehr politisch zu auf der Leipziger Bücherschau.

Der Gaza-Krieg war Thema auf der Leipziger Buchmesse. Während der Eröffnung im Gewandhaus wurde Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Rede von Zwischenrufen genervt. »Hör auf zu brüllen, Schluss!«, rief Scholz wie ein ungeduldiger Lehrer. Doch war die erste Ruferin von Sicherheitsleuten überwältigt, machte auf der anderen Seite des Saales eine andere weiter, und als sie verstummen musste, fing hinter ihr ein Mann an.

Drei effektiv verteilte Rufer reichten aus, um die »FAZ« einen Tag später bilanzieren zu lassen: »Fünf Minuten lang stand die Eröffnungsfeier der Buchmesse auf der Kippe.« Aber dann ging alles ganz normal weiter, insgesamt waren an dem Abend acht Reden zu absolvieren, darunter auch eine Laudatio der Soziologin Eva Illouz auf den Philosophen Omri Boehm, der den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt, für sein neokantianisch inspiriertes Buch »Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität«, das er 2022 gegen den identitätspolitischen Partikularismus veröffentlicht hatte.

Was die drei Leute im Gewandhaus riefen, war nicht so gut zu verstehen. Doch man konnte es nachlesen, an den Trambahnhaltestellen der Messe hatte man es schriftlich, mit Schablone, auf den Boden gesprayt: »Stoppt den Genozid« und »Long live Gaza«. Einen Tag später wurde auch eine Rede in der Alten Handelsbörse von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gestört, wieder von verschiedenen Rufern gegen Israel, die nicht so einfach zu stoppen waren. Anders als »der Kanzler unter Wortbeschuss« (»FAZ«) reagierte Steinmeier präsidial-gefällig und sagte: »Das ist ein ernstes Thema, über das wir in diesem Lande nicht nur während der Buchmesse diskutieren.« Man könnte auch sagen: Böser Lehrer, guter Lehrer.

Aber um das »ernste Thema« ging es Steinmeier dann doch nicht, das war nur eine Phrase. Ihm ging es stattdessen um das Grundgesetz (wird 75), die abgeschaffte DDR (auch Osten genannt) und Leipzig (liebste Revolutionsstadt des bundesdeutschen Establishments). Steinmeier meinte, dass die Ost-West-Konfrontation verblasse, man sei heute »ein ganzes Stück weiter«. Zum Beweis erwähnte er explizit ostdeutsche Autoren wie Manja Präkels, Anne Rabe und Lukas Rietzschel, die er zu einer »neuen Generation« zählte, die »Grabungen« in den »Wirren und Schmerzen des Umbruchs« der 90er Jahre vornähmen.

Später am Abend versuchten sich Anne Rabe (jüngere Ostdeutsche), Marcel Beyer (eingeosteter Westdeutscher) und Ingo Schulze (älterer Ostdeutscher) an einer deutsch-deutschen Diskussion (wie man früher gesagt hätte). Das war dann für die »FAZ« »an diesem ohnehin schon strapaziösen Abend wirklich etwas viel«.

Das Ost-West-Verhältnis bleibt weiter unentspannt. Am Freitag wies die TV-Moderatorin und -Journalistin Jessy Wellmer bei einem »Taz«-Talk über ihr Buch »Die neue Entfremdung« darauf hin, dass man sich im Osten weiterhin über die »moralische Arroganz« des Westens ärgere, als Narrativ der eigenen Abwertung, weshalb viele Verständnis für den moralisch verfemten Putin entwickeln würden, weil sie ihn ebenfalls als irgendwie vom Westen enttäuschten Ostler wahrnehmen möchten. Wellmer kritisiert diese Haltung als ebenso naiv und weltfremd wie die ihrer westlichen Kollegen, beispielsweise von der »Süddeutschen Zeitung«, den Osten immer noch als unbegreifbares Rätselland wahrzunehmen, in das man nicht selber fahren wolle, sondern lieber sie als Ostdeutsche hinschicke.

Mit dem von Boehm geforderten Universalismus hat solcher identitätspolitische Journalismus jedenfalls nichts zu tun. Lustig war die letzte Frage des »Taz«-Redakteurs Peter Unfried, geboren 1963 in Schwäbisch Gmünd, an Wellmer, geboren 1979 in Güstrow, ob sie denn tatsächlich »nur Jessy« heiße? Antwort: »Ja und auch nicht Jessica.« Und schon gar nicht mit Zweitnamen Sandy, Mandy oder Nancy.

Doch wie soll man über all diese Probleme und Vorurteile sprechen? Am Donnerstag wurde an Barbi Marković der Leipziger Buchpreis für Belletristik verliehen, für ihr Kurzgeschichtenbuch »Minihorror«, in dem sie auf ebenso komische wie deprimierende Weise vorführt, wie alltägliche Situationen ins Surreal-Unangenehme abkippen, etwa beim »Zombietalk« zwischen Menschen auf Partys, denn niemand »kennt die gleichen TV-Serien, niemand hört die gleiche Musik, niemand hat dasselbe Computerspiel gespielt. Sie teilen kein Leid, zumindest keins, von dem sie jetzt reden wollen.« Auf der politischen Metaebene gilt das konstant für Ost und West wie für Israel und Palästina.

Omri Boehm, 1979 in Haifa geboren, der seit 2010 in New York Philosophie lehrt, ist aufgefallen, dass es jedes Jahr weniger Studenten gibt, die zu Beginn ihres Studiums dem Grundsatz zustimmen, dass jeder Mensch unveräußerliche Rechte habe, erzählte er auf einer Veranstaltung des PEN Berlin zum Thema »Wie utopisch ist der Frieden?« mit klarem Nahost-Bezug. Für Boehm machten die Netanjahu-Regierung, Hamas und die radikale Linke Unterschiede zwischen den Menschen, und das wirke sich fatal auf das »Zentrum« der Gesellschaft aus. Mit der Folge, dass immer mehr Leute die Menschenwürde für ein Gerücht hielten.

Er selbst hält die immer wieder in diversen Sonntagsreden gepredigte, aber bislang nie realisierte »Zweistaatenlösung« für Israelis und Palästinenser für gescheitert. Stattdessen plädierte er für eine »Einstaatenlösung« in Form einer Konföderation, gründend auf dem Universalismus als Ideal wie bei Immanuel Kant. Die Israelis müssten die »staatenlosen Palästinenser schützen«, um mit ihnen perspektivisch einen gemeinsamen Staat zu schaffen, glaubt Boehm und fordert als Erstes einen Waffenstillstand in Gaza – nicht anders als die Leute, die die Veranstaltung störten, auf der ihm sein Preis für Verständigung verliehen wurde. Doch er betonte anders als diese, dass die Angriffe der israelischen Armee auf »militärische Ziele«, auf die Armee der Hamas notwendig seien. Die Hamas hat den Gaza-Krieg begonnen, nicht Israel – wer das verschweigt oder bagatellisiert, aus dem Diskurs herauskürzt, der oder die argumentiert letztlich antisemitisch, muss man hinzufügen.

Diskurse sind oft verzwickter, als man meint. Schon mal darüber nachgedacht, wie eigentlich die Künstliche Intelligenz tickt? Auf einer Veranstaltung des Verbrecher-Verlags im selbstverwalteten Jugend-Kulturzentrum Conne Island zum neuen Sammelband »Code & Vorurteil« betonte der Informatiker und Philosoph Jürgen Geuter, dass die KI mit »säckeweise Vorurteilen« gefüttert worden sei, unter anderem mit der Reklame seit 1920 und damit auch mit sämtlichen Stereotypen und Rassismen, die der allseits beliebte Chat GPT selbstverständlich reproduziert und fortschreibt. Für Geuter ist das die »Verflachung der Welt und des Denkens«.

Aber manchmal scheint es auch Atheisten so, als greife die »Hand Gottes« ein. So Diego Maradona über sein berühmtes Tor, das er 1986 im WM-Viertelfinale gegen England mit der Hand erzielte und das der Schiedsrichter für ein reguläres Kopfballtor hielt. Den Diskurs hierüber beschreibt der Musiker und Autor Florian Weber, der bei den Sportfreunden Stiller Schlagzeug spielt, in seinem Buch »Maradona Mío«, aus dem er im Felsenkeller sehr unterhaltsam vortrug. Es war ein Diskurs in seiner Kindheit, unter Zwölfjährigen, die dieses Tor polarisierte, »auch wenn wir noch gar nicht wussten, was polarisieren ist«.

Er glaube bis heute nicht an Gott, denn sein Gott heiße Maradona, meint Weber, dessen Buch in der neuen Fußballreihe »Idole« bei Voland & Quist erschienen ist, die Frank Willmann herausgibt. Der las am selben Abend das Vorwort zu seinem neuen Buch »Streifzüge durch den wilden Fußballosten«, erschienen im Ventil-Verlag. »Osten« meint hier Osteuropa, das ist auch das Thema seiner Kolumne auf der nd-Sportseite. Für Willmann ist »der abgehängte Fußball im Osten das letzte sakrale Schauspiel unserer Zeit«: Voller Tradition, Sehnsucht und Schmerz. Auch er ist getrieben vom Traum des Universalismus und der Gerechtigkeit – trotz alledem. »Der Ostler sieht mit einer Sehnsucht nach dem Westen, die der Westen keinesfalls verdient«, schreibt Willmann. Und dann schallte es um zwei Uhr nachts auf der Tanzfläche im Conne Island: »Don’t hurt me«. Der Refrain des alten Eurodance-Hits »What is love« von Haddaway als Aufruf gegen Krieg und Wahn.

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