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- Manifest von Ventotene
Die Revolution muss sozialistisch sein
Das Manifest von Ventotene forderte einen Neuanfang in Europa durch Überwindung des Kapitalismus
Gerne wird es zur Vorgeschichte der Europäischen Union das Manifest gezählt, das drei italienische Antifaschisten 1941, mitten im Krieg, auf der Gefängnisinsel Ventotene vor der Küste zwischen Rom und Neapel heimlich verfasst hatten. Auf dem Höhepunkt der Machtausweitung der Diktaturen Hitlers und Mussolinis rief es zu einer grundlegenden europaweiten sozialistischen Umwälzung auf. In seiner radikalen Abrechnung mit den gesellschaftlichen Ursachen, die zum Krieg geführt hatten, war es eindeutig. Die Herausbildung der Nationalstaaten sei zwar historisch ein mächtiges Moment zur Durchsetzung von Demokratie gewesen, selbst unter kapitalistischen Bedingungen. Doch deren Konkurrenz untereinander und die Unterwerfung der Gesellschaft unter zunehmend totalitär verfasste Staaten habe zur Krise und zu einem Zweiten Weltkrieg geführt, angezettelt vom deutschen Militarismus, dessen Triumph mit allen Mitteln verhindert werden müsse. Ein Sieg der Alliierten würde jedoch allein nicht ausreichen, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Diktaturen ermöglicht hatten, dürften nicht unangetastet bleiben. Also forderten die Verfasser eine grundlegende Umwälzung, die Europa vereinigen müsse und die Konkurrenz der Staaten untereinander aufheben würde. Sie fügten hinzu: »Die Revolution muss, soll sie unseren Bedürfnissen entsprechen, sozialistisch sein, das heißt, sie muss sich einsetzen für die Emanzipation der arbeitenden Klassen und für die Schaffung humanerer Lebensbedingungen.« Das Manifest mündete in eine Reihe konkreter, unmittelbar in Angriff zu nehmender demokratischer und sozialer Forderungen. Zu deren Umsetzung müssten Arbeiterschaft und Intellektuelle zusammenwirken.
Die drei Verfasser standen für unterschiedliche Strömungen und Erfahrungen der italienischen Arbeiterbewegung. Hauptautor Altiero Spinelli, Jahrgang 1907, hatte sich 1924 der Kommunistischen Partei angeschlossen. Bereits nach drei Jahren geriet er in Haft und durchlitt die verschiedensten Gefängnisse, bevor er 1939 auf die Insel verbannt wurden. Da war er bereits aus der Partei ausgeschlossen worden, weil die Moskauer Schauprozesse kritisiert hatte. Einen ambivalenten politischen Weg hatte Ernesto Rossi, Jahrgang 1897, zurückgelegt. Er war an der Gründung der faschistischen Partei in Italien beteiligt, verließ diese aber noch vor Mussolinis »Marsch auf Rom« und schloss sich der manchmal liberalsozialistisch genannten Gruppierung Giustizia e libertà (Gerechtigkeit und Freiheit) an, in der sich republikanisch und antifaschistisch gesinnte Intellektuelle sammelten. Als einer ihrer Führer wurde er 1930 verhaftet.
Der Dritte in der Runde, Ernesto Colorni, repräsentierte die sozialistische Strömung. Als Kontaktmann zwischen der Parteiführung im Exil und den im Untergrund in Italien wirkenden Genossen geriet er 1938 ins Visier der faschistischen Geheimpolizei. Hinzu kam, dass er aus einer jüdischen Familie stammte und auch in Italien sukzessive antisemitische Gesetze eingeführt wurden. Verheiratet war er übrigens mit Ursula Hirschmann, der Schwester eines Aktivisten der linkssozialdemokratischen Widerstandsgruppe Neu Beginnen in Deutschland, der später in den USA unter seinem amerikanisierten Namen Albert Hirschman ein bekannter, oftmals quer zur herrschenden ökonomischen Orthodoxie argumentierender Wirtschaftsexperte war.
Das Manifest wurde von seinen drei Verfassern auf Zigarettenpapier geschrieben und durch die Ehefrauen von Rossi und Colorni nach Besuchen ihrer Männer aus der Haftanstalt auf Ventotene herausgeschmuggelt. Einzelne Passagen zirkulierten schon bald in der illegalen Presse der Resistenza, der italienischen Widerstandsbewegung. Doch erst nach dem Sturz Mussolinis im Juli 1943, der auch zur Freilassung der drei Autoren führte, erlebte deren Vision ein breiteres Echo, auch wenn sich die Befreiung Italiens noch zwei Jahre hinzog.
Mit seiner Verschränkung von grundlegenden demokratischen Forderungen mit einer sozialistischen Ausrichtung als Abrechnung mit Faschismus und Nazismus traf das Manifest von Ventotene das gesellschaftliche Bewusstsein im Augenblick des Sturzes der Diktaturen in Europa. Die Ursachen der Katastrophe des Kriegs wurden in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und dem schändlichen Verhalten von deren Eliten gesehen. Selbst im sogenannten Ahlener Programm der CDU von 1947 tauchte noch die Forderung nach einer »gemeinwirtschaftlichen Ordnung« auf, da der Kapitalismus der Lage nicht mehr gerecht werde.
Sozialistische Vorstellungen hatten die verschiedensten Widerstandsbewegungen in Europa mobilisiert und motiviert. Sie übernahmen nach der Befreiung in vielen Ländern, wenngleich nur für kurze Zeit, die Macht in Form von Befreiungs- oder antifaschistischen Komitees und waren teils an den ersten Nachkriegsregierungen beteiligt. Doch dieser »Moment der Befreiung«, wie es der in Paris lehrende deutsche Historiker Gerd-Rainer Horn jüngst in einer umfassenden, leider noch nicht ins Deutsche übertragenen Studie formulierte, verflog schnell. Stefan Heyms Buch über den bei Kriegsende 1945 vorübergehend unbesetzten kleinen Ort Schwarzenberg im Erzgebirge gibt trotz der geografisch äußerst kleinen Dimension eine Ahnung von jener hoffnungsvollen Aufbruchstimmung, die jedoch bereits Sommer 1945 versiegte. Nicht zuletzt, weil sich die Alliierten in den Konferenzen von Jalta und Potsdam auf einen Kompromiss geeinigt hatten, der gebotener Entnazifizierung das gesamtgesellschaftliche Gleichgewicht international nicht infrage zu stellen. Der Kalte Krieg warf seine Schatten voraus.
Das blieb nicht ohne Folgen für das Manifest von Ventotene. Die ersten Nachkriegsveröffentlichungen entschärften dessen antikapitalistische Dimension, der Tenor lag ganz auf die Schaffung eines europäischen Föderalstaates, die Frage nach dessen gesellschaftlicher Verfasstheit trat in den Hintergrund. Darauf konzentrierte sich vor allem Spinelli im Rahmen der verschiedenen entstehenden europäischen Institutionen, während Rossi in Italien als Journalist tätig war. Colorni war tragischerweise in den letzten Kämpfen vor der Befreiung Roms im Mai 1944 umgekommen.
Es ist letztlich also nicht verwunderlich, dass das Manifest von Ventotene heute zu einer Art bloßem Schlagwort geworden ist, ohne dessen ursprünglichen Inhalt zu erwähnen. So erklärt sich auch, dass es von der frisch gekürten Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, nicht gerade als Antikapitalistin bekannt, zur Begründung der von ihr avisierten Politik angeführt wurde.
Reiner Tosstorff ist außerplanmäßiger Professor für Neueste und Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
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