- Kultur
- Margot Friedländer
»Für Euch: Seid Menschen!«
Zum Tod der Shoah-Überlebenden Margot Friedländer
Wie viel Leid und Schmerz kann ein Mensch ertragen? Wie viele Verletzungen und Enttäuschungen? Wie viele Schmähungen und Beleidigungen. Wie viel Angst, tagtäglich, über Jahre hinweg. Um das eigene nackte Leben und das Leben der Seinen? Es ist nicht vorstellbar, nicht fassbar, bleibt nach wie vor unverständlich, was Menschen angetan wurde. Im Namen einer Ideologie, menschenverachtend, bar jeglicher ethischer Werte, jeweden Mitgefühls, jedweder Barmherzigkeit – gegenüber den vermeintlich »Anderen«, der »Herrenrasse« nicht zugehörig, ausgestoßen aus der Gesellschaft und als des Lebens für »unwürdig« abgestempelt, Schikanen, Entwürdigungen und Entrechtung ausgesetzt.
Margot Friedländer hat diese Qualen erlitten. Und hat gekämpft. Nicht aufgegeben. Wenngleich oft der Verzweiflung nah. Hoffnungslos. Und doch hoffend. Eine tapfere Frau, die lange über das ihr und den Ihren zur Zeit der faschistischen Diktatur in Deutschland angetane ungeheure Unrecht geschwiegen hat, erst nach Jahrzehnten den Mut fasste, ihre Geschichte zu erzählen, es schließlich als Verpflichtung ansah, zu berichten und zu mahnen.
Margot Friedländer, geboren als Anni Margot Bendheim am 5. November 1921 in Berlin, ist am Freitag, den 9. Mai, im Alter von 103 Jahren in ihrer Geburtsstadt verstorben. An ihrem Todestag hätte sie eigentlich das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland erhalten sollen. Sie ist in den letzten Jahren mit Ehrungen und Auszeichnungen überhäuft worden. Doch die waren ihr nicht so wichtig. Wichtiger war ihr, dass man ihr zuhörte, aus ihren Erfahrungen lernt, vor allem die Jugend, um gefeit und gewappnet zu sein vor Verführungen und Versprechungen neuer rechtsradikaler Populisten und Demagogen.
Die Tochter eines Handelsvertreters und Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg, was ihm unterm Hakenkreuz keinen Schutz gewährte (er wurde 1942 von den Nazis ermordet), und der aus dem südpolnischen Cieszyn (deutsch: Teschen) stammenden Auguste Gross, die sich nach der frühen Scheidung von ihrem Mann mit zwei kleinen Kindern allein durchschlagen musste (mehr schlecht als recht mit einem kleinen Knopfgeschäft in Berlin), hat die Facetten menschlicher Abgründe erlitten. Etliche Versuche der Auswanderung aus dem antisemitischen Deutschland scheiterten, nicht nur an bürokratischen Hürden und dem feindseligen NS-Staat. Auch an der Migranten abweisenden Haltung etwa der US-Administration in Washington.
Als im Januar 1943, ein Jahr nach der berüchtigten Wannsee-Konferenz und als die mörderische Deportationsmaschinerie gen Osten bereits auf Hochtouren lief, schien die Flucht nach Oberschlesien zu Verwandten der Mutter schon fast perfekt. Da schlug die Gestapo zu. Sie traf in der Wohnung der Bendheims allerdings nur Ralph, Margots drei Jahre jüngeren Bruder, an. Das Entsetzen der später heimkehrenden Mutter und ihren Entschluss, den Sohn zu suchen, um ihm beizustehen, dürfte jeder fühlende Mensch nachvollziehen können. Bei einer Nachbarin hinterließ sie für die Tochter ihre Handtasche und eine letzte, flehentlich Bitte: »Versuche, dein Leben zu machen.« Margot Friedländer wird 2008 ihre Autobiografie so titeln.
Die 22-Jährige ist hin- und hergerissen, als sie die Schreckensnachricht von der Verhaftung des Bruders und dem Fortgang der Mutter erfährt. Doch sie ist gewillt, den Wunsch der Mutter zu befolgen: Versuche, dein Leben zu machen. In der Handtasche findet sie eine Bernsteinkette und ein Adressbuch, das ihr anfänglich hilft, unterzutauchen. Margot gehört fortan zu den tausenden Juden, die in der »Reichshauptstadt« von einem Versteck ins andere fliehen, stetig die Furcht im Nacken, entdeckt oder verraten zu werden. Die einen helfen uneigennützig, sind überzeugte Nazigegner, andere fordern Gegenleistungen, finanziell oder sexuell. Margot wird an Leib und Seele vergewaltigt. Aber sie bleibt tapfer. Ihr Überleben verdankt sie einzig und allein sich selbst, ihrem Mut, ihrem Einfallsreichtum. Sie lässt sich die Haare tizianrot färben, trägt an einer Kette um den Hals das Christenkreuz, lässt sich die Nase operieren, damit sie nicht mehr dem antijüdischem Klischee, den NS-Hetzkarikaturen entspricht.
Im Frühjahr 1944 gerät sie in eine Kontrolle von »Greifern«, wie die Juden genannt werden, die im Auftrag von Gestapo und SS versteckte Juden ausliefern sollen, dazu erpresst mit der Androhung ihrer eigenen Deportation in ein Ghetto oder Vernichtungslager im Osten respektive ihrer Familienangehörigen. Margot wird den Namen ihrer Denunzianten erst später erfahren. Sie wird ins KZ Theresienstadt eingeliefert. Dort trifft sie Adolf Friedländer wieder, den sie aus dem Jüdischen Kulturbund kennt, als sie Kostüme für Theateraufführungen schneiderte. Auch er ist einsam und allein, seiner Familie entrissen. Gemeinsames Unglück, gemeinsame Ungewissheit vereint sie. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, sagt Margot Friedländer später.
Noch im Herbst ’44 wird in dem drei Jahre zuvor als »Altersghetto« für Juden in einer alten Festung in Tschechien errichteten Lager ein Propagandafilm gedreht, der ein »normales Leben« im Ghetto Theresienstadt vorgaukeln soll: Freizeit, Fußball, Familienbad. Kein halbes Jahr darauf treffen im Lager Transporte aus Auschwitz ein. Tote wie scheinbar Lebende werden aus den Waggons gekippt, wie Margot Friedländer sich erinnert. Das Lager ist bald unerträglich übervoll. Am 9. Mai, ein Jahr nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Berlin-Karlshorst, befreit die Rote Armee die wenigen Überlebenden von ihrer Pein.
Was sollte Margot noch in diesem Deutschland halten? Die Ihren waren ermordet. Auguste und Ralph Bendheim sind in jenem für Margot so schicksalhaften Januar 1943 nach Auschwitz deportiert worden, die Mutter wurde sofort in die Gaskammer geschickt, der Sohn und Bruder überlebte sie nur um einen Monat.
Margot heiratet ihren Adolf. Sie übersiedeln 1946 nach New York, wo sie zunächst wieder als Schneiderin arbeitet und dann als Reisevermittlerin. Nachdem ihr Mann 1997 gestorben ist, besucht sie einen Seniorenkurs für biografisches Schreiben. Eine ihrer ersten Geschichten handelt von ihrer Befreiung im KZ Theresienstadt. Ein Dokumentarfilmer wird auf sie aufmerksam. Es entsteht ein erster Film über sie und mit ihr in ihrer alten Heimatstadt Berlin, in die sie erst im neuen Millennium zurückkehrt und deren Ehrenbürgerin sie wird. Und wo sie universitäre Ehrendoktorwürde erhält, zweimal das Bundesverdienstkreuz und einen Berliner Bären. Und in dessen Rotem Rathaus sie noch am 7. Mai dieses Jahres, zwei Tage vor ihrem Tod, eine Rede hält. »Für Euch. Seid Menschen. Das ist es, was ich Euch bitte zu tun: Seid Menschen!« waren ihre letzten öffentlichen Worte.
Die Nachricht von ihrem Ableben platzte am Freitagabend in die Zeremonie der Vergabe des Deutschen Filmpreises in Berlin. Es war Igor Levi, der sie dem honorigen Publikum mitteilte. Der Pianist sollte die Laudatio für die beste Filmmusik halten, hielt jedoch, mit Tränen kämpfend, erst eine Hommage auf die »warmherzige, großzügige, unglaubliche Person«, die er »ein Wunder an Menschlichkeit« nannte.
Ja, das war sie, Margot Friedländer. Sie hegte keinen Groll, keine Rachegedanken, wünschte sich nur eins: dass Menschlichkeit unter den Menschen sei. Egal welcher Nationalität, welcher Religion, welcher Herkunft, welcher Weltanschauung. Kein Hass mehr, keine Feindschaft, kein Misstrauen, kein Morden mehr.
Am 9. Mai ist sie gestorben. Am 80. Jahrestag ihrer Befreiung aus faschistischem Fanatismus. Es scheint etwas Befreiendes, Tröstliches dieser Datumszufälligkeit innezuwohnen. Und zugleich eine Aufforderung: Nie wieder. Nicht nur jetzt. Sondern immerdar. Und das heißt auch konkret für heute: Verbot der AfD! Und aller sonstigen in Deutschland wieder Morgenluft witternden rechtsextremen Strömungen und Gruppierungen. Und eine humane Migrationspolitik. Und eine Innen- und Außenpolitik, die vom Gebot der Menschlichkeit getragen ist.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.