Bürgerentscheide zu Flüchtlingsunterkünften enden meist positiv

Der Verein Mehr Demokratie stellt seinen Bürger­begehrens­bericht vor – mit Fokus auf Begehren zur Flüchtlings­unterbringung

2023 stimmten über 90 Prozent der Teilnehmer eines Bürgerentscheids gegen eine Geflüchtetenunterkunft in Grevesmühlen – die Schutzsuchenden mussten im wenige Kilometer entfernten Upahl bleiben.
2023 stimmten über 90 Prozent der Teilnehmer eines Bürgerentscheids gegen eine Geflüchtetenunterkunft in Grevesmühlen – die Schutzsuchenden mussten im wenige Kilometer entfernten Upahl bleiben.

Wer sich in Deutschland aus einer progressiven Perspektive für direkt-demokratische Verfahren einsetzt, hat es schwer. Seit sich die AfD den Einsatz für die direkte Demokratie auf die Fahnen geschrieben hat, ist etwa die Debatte um einen bundesweiten Volksentscheid abgeflacht. Bisher können Bürger*innen nur auf Kommunal- und Landesebene zu konkreten Sachfragen an die Urne treten – im Rahmen sogenannter Bürger- oder Volksentscheide. Auch diese bereits vorhandenen Instrumente versucht die extreme Rechte zu nutzen, um die Aufnahme von Geflüchteten zu verhindern. Das Magazin »Compact« startete dazu die Kampagne »Bürgerentscheid gegen Asyl«, und die AfD war in Ostdeutschland an mehreren Bürgerbegehren gegen Geflüchtetenunterkünfte beteiligt. Nun zeigt eine gemeinsame Auswertung des Vereins Mehr Demokratie und der Universitäten Wuppertal und Marburg: Sofern es hierzulande in den vergangenen zehn Jahren zu Bürgerentscheiden zur Unterbringung von Geflüchteten gekommen ist, endeten diese meist »flüchtlingsfreundlich«.

Die insgesamt 90 bereits abgeschlossenen Bürgerbegehren zur Unterbringung von Schutzsuchenden führten zu 27 Bürgerentscheiden. In diesen Fällen konnten die Antragsteller also ausreichend Unterschriften für eine Abstimmung sammeln, und das Begehren wurde als zulässig erklärt. 16 dieser Fälle führten zur Entscheidung für die bereits geplante oder eine bessere Unterbringung – oder die Mehrheit der Abstimmenden sprach sich gegen eine Verschlechterung aus. In zehn Fällen stimmten die Bürger*innen gegen einen Unterkunftsstandort, entschieden sich also »flüchtlingsunfreundlich«, wie es in dem Bürgerbegehrensbericht heißt.

Weder in Thüringen oder Sachsen noch in Sachsen-Anhalt oder Brandenburg ist es ausweislich des Berichts überhaupt zu einem Entscheid gekommen – entgegen den Bemühungen von AfD und Co. »Die rechte Mobilisierung ist hier als Rohrkrepierer geendet«, so Ralf Uwe Beck, Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie. Seiner Meinung nach lässt sich mit den neuen Daten das Argument entkräften, direkt-demokratische Elemente würden von der Rechten für ihre Zwecke instrumentalisiert.

Eine genauere Auswertung der abgelehnten Begehren fand nicht statt. Es ist davon auszugehen, dass sich unter ihnen viele flüchtlingsfeindliche Vorhaben befinden, die an rechtlichen Hürden scheiterten. Denn auf kommunaler Ebene kann auch ein Bürgerentscheid nicht darüber entscheiden, ob und wie viele Schutzsuchende eine Gemeinde aufnimmt – das regelt der Königsteiner Schlüssel auf Bundesebene. Genau das war jedoch das Ziel von »Compact« und AfD. Ein Begehren auf kommunaler Ebene kann indes nur die Art und den Ort der Unterbringung ändern. Es gab aber auch unzulässige Begehren, die für einen Baustopp von Massenunterkünften für Geflüchtete warben.

»Die AfD sollte uns nicht verunsichern«, kommentiert Beck den Einsatz der rechtsextremen Partei für mehr direkte Demokratie auch auf Bundesebene. »Die AfD will eine andere direkte Demokratie, als wir sie vertreten.« So wolle die AfD etwa eine Prüfung der Begehren abschaffen und Änderungen eines Volksentscheides nur durch einen weiteren Volksentscheid möglich machen. »Das ist nichts anderes als die direkte Demokratie in Stellung zu bringen gegenüber der repräsentativen«, so Beck.

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Insgesamt kam es nach dem am Mittwoch vorgestellten Bürgerbegehrensbericht 2024 zu 229 Bürgerbegehren in Deutschland. 179-mal folgte darauf ein Bürgerentscheid. An jedem Sonntag stimmt die Bevölkerung also statistisch gesehen in zwei bis drei Kommunen über eine lokalpolitische Frage ab. Oft gehe es dabei um Wirtschaftsprojekte wie Hotels, Einkaufszentren oder Windparks, um öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Sportstätten, Bäder oder um Verkehrsprojekte wie Umgehungsstraßen, Radverkehrsinfrastruktur und Fußgängerzonen.

Das vergangene Jahr liegt etwas unter dem Durchschnitt der vorherigen zehn Jahre; dieser liegt bei jährlich 285 neuen Verfahren. Mehr Demokratie geht dabei aber nicht von einem Abwärtstrend, sondern von einer normalen Schwankung aus. Insgesamt seien knapp 39 Prozent aller abgeschlossenen Verfahren erfolgreich im Sinne der Initiator*innen. Für einen Erfolg ist nicht zwingend ein Bürgerentscheid nötig: Etwa 14 Prozent der Begehren bewegten den Gemeinderat auch ohne Abstimmung zu einer Übernahme der Forderungen. »Das zeigt die Kraft der direkten Demokratie«, so Beck.

Allerdings gebe es gravierende Unterschiede innerhalb der Bundesrepublik. Während 2024 in Bayern 66 Bürgerbegehren eingeleitet wurden, kam es im Saarland zu keinem einzigen. Mehr Demokratie fordert daher von der saarländischen Regierung, die Hürden für einen Bürgerentscheid zu senken. Große Hoffnungen auf eine baldige Einführung des bundesweiten Volksentscheids macht sich der Verein indes nicht. Das Thema komme nicht im Koalitionsvertrag vor und sei zu sehr mit der AfD verknüpft – zu Unrecht, wie Beck betont.

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