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Realismus und Symbolik

Zum Tod des kenianischen Schriftstellers Ngũgĩ wa Thiong’o

War immer kurz vor dem Nobelpreis: der kenianische Schriftsteller Ngugi Wa Thiong'o.
War immer kurz vor dem Nobelpreis: der kenianische Schriftsteller Ngugi Wa Thiong'o.

Nicht nur Kenia trauert um Ngũgĩ wa Thiong’o, der Ende Mai mit 87 Jahren im US-amerikanischen Exil, in Buford, Georgia, verstarb. Er war der alles überragende Gigant der kenianischen Literatur. Mit seinen Werken und seinem marxistisch-revolutionären Denken trug Thiong’o, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte und mehr als 20 Geschwister hatte, dazu bei, die schmerzhafte Kolonialvergangenheit aus dem kollektiven Gedächtnis nicht zu verbannen, aber allmählich zu überwinden, wenn das überhaupt jemals vollends geht. Dafür musste er selbst viele Opfer auf sich nehmen. Der fast schon typische Weg eines großen Mannes. Thiong’o wurde für (zu) freimütige Schriften und Kritik an herrschenden Eliten inhaftiert, schikaniert und verfolgt. Er verließ mit seiner Familie Kenia gen USA. Aufgenommen wurde der damals bereits bekannte Schriftsteller an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten, wo er Englische und Vergleichende Literaturwissenschaft lehrte.

Najem Wali, Vizepräsident des deutschen PEN-Zentrum, hat zwar Ngugui wa Thiong’o nie selbst getroffen, sich über die Jahre intensiv mit seinem Wirken auseinandergesetzt. »Er war nicht nur ein bedeutender Romanautor, sondern auch ein literarisches und intellektuelles Symbol des kulturellen Widerstands, eine lautstarke Stimme gegen Kolonialismus und postkoloniale Politik und ein Kämpfer, der die Identität der afrikanischen Literatur als Werkzeug des Widerstands, der Förderung nationaler Würde und kultureller Authentizität neu definierte«, sagte er dieser Zeitung.

Sich nur auf Romane zu fokussieren, war dem Kenianer stets zu wenig. Wa Thiong’os Werk umfasste daher auch Theaterstücke, Kurzgeschichten, Essays und Kinderliteratur. »Seine Romane wie ›Ein Weizenkorn‹ und ›Mesopotamien‹ spiegeln seine Fähigkeit wider, Geschichten zu verweben, die Realismus und Symbolik verbinden«, sagt Wali. Nach seinem internationalen Durchbruch mit »Weep not, Child« im Jahre 1964 begann Wa Thiong’o allmählich, seine Muttersprache Gikuyu beim Schreiben seiner Texte zu privilegieren. Als Symbol der Unabhängigkeit und Freiheit – er nannte das kurzum »Dekolonisierung des Denkens«.

Die kolonialen Sprachen und koloniale Leitkultur, deren Überlegenheit nicht nur während der Kolonialzeit, sondern auch danach von klein auf eingeimpft würden, seien das Dilemma. Seit den 70ern schrieb er fast ausschließlich auf Gikuyu; seinen anglo-christlichen Namen James, den britische Kolonialherrn ihm einst aufgezwungen hatten, legte er fortan ab. Er wollte die englische Sprache nicht weiter literarisch nutzen, sich ihr nicht bemächtigen. Mit dem demokratisch-proletarisch produzierten Theaterstück »Ich heirate, wann immer ich will« schaffte er es gemeinsam mit kenianischen Bauern und Arbeitern, »das Theater vom Elitismus zu befreien und es zu einer Plattform für öffentliche Debatten zu machen«, sagt Wali. Nach der Uraufführung 1977 in Nairobi wurde Thiong’o verhaftet und kam ein Jahr ins Gefängnis, wo er auch gefoltert wurde. 1982 durfte er nach London ausreisen und blieb dann im Exil.

Seine Kurzgeschichte »Die vertikale Revolution: Oder warum Männer aufrecht gehen« (2019) wurde in mindestens 30 Sprachen übersetzt. In ihr verwandelte er ein Volksmärchen in ein universelles Symbol der Befreiung. Immer wieder war er für den Nobelpreis im Gespräch. Für Najem Wali markiert Thiong’os Tod »nicht das Ende, sondern den Beginn einer Wiederentdeckung seines Vermächtnisses«. Die Werke des Verstorbenen werden »Generationen zum Nachdenken über Identität, Sprache und kulturellen Widerstand anregen.«

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