Von den Nazis ausgestoßen und ausgelöscht

Volkssolidarität und andere erinnern an ermordete Bewohner des jüdischen Altenheims in Köpenick

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.
Das jüdische Altenheim in der Mahlsdorfer Straße 94 – heute eine Seniorenwohnanlage der Volkssolidarität
Das jüdische Altenheim in der Mahlsdorfer Straße 94 – heute eine Seniorenwohnanlage der Volkssolidarität

Von 1941 bis 1943 deportierten die Faschisten mindestens 93 Bewohner des jüdischen Altenheims in Berlin-Köpenick einschließlich ihrer Betreuer. Nur zwei haben den Zweiten Weltkrieg überlebt: ein Koch, der im Alter von 50 Jahren verschleppt wurde, und eine 70-Jährige, von der die Historikerin Bettina Goldberg nach bisherigem Forschungsstand nicht sicher sagen kann, ob sie eine Bewohnerin oder eine Beschäftigte war. Diese beiden Menschen wurden 1945 im KZ Theresienstadt befreit, wo so viele ihrer Leidensgenossen zugrunde gingen. Viele andere Bewohner des jüdischen Altenheims an der Mahlsdorfer Straße 94 sind in Treblinka ermordet worden, andere in Auschwitz, Minsk oder Riga. Zwei nahmen sich verzweifelt noch in Berlin das Leben.

Am frühen Donnerstagabend verlesen viele sehr junge und einige mehr oder weniger ältere Leute wie Bezirksbürgermeister Oliver Igel (SPD) und Kulturstadtrat Marco Brauchmann (CDU) in der Aula der Merian-Schule die Namen der bekannten Opfer. Klaus Zimmering nennt dabei den Namen seines Urgroßvaters Leopold Lindemann. Susanne Sommer ist extra aus dem kalifornischen Sacramento angereist und liest, auf einen Stock gestützt, die Namen ihrer Großeltern Rosa und Hans Saloschin. Diese beiden hatten eine geräumige Fünf-Zimmer-Wohnung in Prenzlauer Berg, die ihnen in der Nazizeit gekündigt wurde. Die Saloschins mussten die Einrichtung weit unter Wert verkaufen und zogen zunächst in ein jüdisches Altenheim in Mitte und von dort nach Köpenick.

Am Zaun hängt eine Hinweistafel, an der Fassade außerdem eine Gedenktafel.
Am Zaun hängt eine Hinweistafel, an der Fassade außerdem eine Gedenktafel.

»Wie gern möchte ich stolz neben Susannchen einherschreiten«, schrieb Hans Saloschin im Oktober 1941 seinem in die USA ausgewanderten Schwiegersohn. Er lernte fleißig Englisch, um mit seiner kleinen Enkeltochter Susanne sprechen zu können. Die Familie hoffte, nach dem Krieg in Kalifornien zueinander zu finden. Doch Rosa und Hans Saloschin erlebten die Befreiung vom Faschismus nicht mehr. Ihre alten Briefe hat Enkelin Susanne Sommer im Jahr 2002 gefunden, als ihre Mutter gestorben war. Es sei ihr eine Ehre, hier zu sein, äußert Sommer, gerührt von dem Gedenken, das vom Museum Treptow-Köpenick bereits im zweiten Jahr in Folge organisiert wurde und dabei nun erstmals in Kooperation mit der Merian-Schule und der Volkssolidarität.

Die Berliner Volkssolidarität betreibt in dem ehemaligen jüdischen Altenheim heute eine Seniorenwohnanlage. »Es ist selbstverständlich, dass wir uns an einer Gedenkveranstaltung beteiligen, die an Opfer des Nationalsozialismus erinnern«, versichert die Vorstandsvorsitzende Susanne Buss. Das gelte besonders im 80. Jahr nach der Befreiung und 80 Jahre nach der Gründung des Wohfahrtsverbandes im Oktober 1945. »Wir leben Vielfalt und haben Platz für alle Konfessionen und auch für jene, die nicht an Gott glauben«, sagt Buss. »Nie wieder dürfen Menschen so behandelt werden

Gebaut wurde das recht imposante Haus an der Mahlsdorfer Straße bereits 1915 als Erziehungsanstalt für weibliche Jugendliche, die aber 1930 nach Hessen verlegt wurde. Bis 1929 war dort auch ein Kinderheim ansässig, welches dann nach Potsdam umzog.

1931 habe es in Berlin vier jüdische Altenheime gegeben, die den Bedarf jedoch nicht mehr decken konnten, schildert Historikerin Goldberg. Jüdische Mittelständler hatten in der Inflation von 1923 und in der Weltwirtschaftskrise von 1929 ihr für den Ruhestand aufgespartes Geld verloren und waren nun auf Fürsorge angewiesen. Am 18. September 1932 weihte ein Oberrabbiner das Altenheim in der Mahlsdorfer Straße ein. Auch er wurde später von den Nazis ermordet. 64 Betten hat es ursprünglich gegeben – in Einzelzimmern für Alleinstehende und in Doppelzimmern für Ehepaare. Das Haus verfügte über eine Zentralheizung, fließend warmes Wasser und einen Speisesaal. Doch bereits 1935 lebten doppelt so viele Senioren in den nun fünf Berliner Heimen, als es unter normalen Bedingungen vorgesehen war – und Tausende warteten auf einen Platz. Denn vor den Nazis ins Ausland geflohene Angehörige waren oft nicht mehr in der Lage, die alten Menschen zu unterstützen.

Kantor Yoed Sorek singt in der Aula Hebräisch und Jiddisch. Eins der Stücke wirkt durch die verwendete Orgelmusik christlich, weiß Sorek und kann das erklären. Die Juden im Altenheim hatten sich als Teil der sie umgebenden Gesellschaft empfunden, die sie dann auf so grausame Weise behandelte. Der Kantor spricht schließlich vor dem Seniorenwohnheim der Volkssolidarität das bei solchen Anlässen übliche Gebet Kaddisch. Am Zaun hängt eine Tafel, die auf die Geschichte des jüdischen Altenheims hinweist, an der Fassade noch zusätzlich eine Gedenktafel für die Opfer. Auch der betagten Nachfahrin Susanne Sommer ist es wichtig, die 800 Meter von der Merian-Schule noch mit zur Mahlsdorfer Straße zu laufen. Für jedes Opfer wird dort eine Rose abgelegt.

»Nie wieder dürfen Menschen so behandelt werden.«

Susanne Buss Volkssolidarität

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