Koffer mit doppeltem Boden

Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers und Drehbuchautors Angel Wagenstein

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Genießer alles Relativen: Angel Wagenstein.
Genießer alles Relativen: Angel Wagenstein.

Die verhängnisvollsten Irrtümer kann nur begreifen, wer sie begeht. Als im Oktober 2015 in der Akademie der Künste Berlin die Kriegstagebücher Konrad Wolfs vorgestellt wurden, saß auch Angel Wagenstein auf dem Podium. Sprach von der Pein des Regisseurs Wolf, den er immer Konrad Friedrichowitsch nannte – Vorname und Vatersname (Friedrich Wolf), nach russischer Art. Pein? Ja, einem Ideal die Treue zu halten. »Der frühe Tod 1982 hat meinen Freund davor bewahrt, zu jener bitteren Konsequenz zu kommen, die ich lang schon gezogen hatte.« Sagte Wagenstein. Und erzählte vom Streit der beiden über einen Kommunisten, der zehn Jahre im Gulag gefangen war und das Schandlager als glühender Kommunist verlassen habe. »Konrad Friedrichowitsch sagte laut und inständig, das sei doch wahrlich ein ganz großer Charakter – ich erwiderte ihm, das sei doch wahrlich ein ganz großer Idiot.« Flamme und Asche einer Gesinnung.

Wagenstein: der Realist, der Illusionsbefreite, der Erfahrungsbelehrte. »Wir Bulgaren waren immer gute Schmuggler; meine Geschichten – ob im Roman oder im Film – sind immer Koffer mit doppeltem Boden.« Ja, was wir heute wissen, denken wir morgen anders. Mit über 25 Drehbüchern und ähnlich vielen Dokumentarfilmen war er der literarische Begründer des neueren bulgarischen Kinos. Er schrieb für Wolfgang Staudte, für Peter Patzak, für Hermann Zschoche. In den siebziger Jahren entstanden Reportagen für die ARD, wegen des Films »Eine Patrone und drei Körner Reis« protestierte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Wie dürfe es sein, dass ein bulgarischer Kommunist für das westdeutsche Fernsehen aus Nordvietnam berichte?

Beim Studium an der Moskauer Filmhochschule hatte er Konrad Wolf kennengelernt. Kommilitone – und Kamerad. Im Konfliktfeld von freigeistigen Projektträumen und real-sozialistischem Pragmatismus. Für drei Filme Wolfs hat Wagenstein die Drehbücher geschrieben (»Sterne«, »Der kleine Prinz«, »Goya«). »Sterne« – in acht Tagen niedergeschrieben. Geradezu fiebernd. Bedrängend der Stoff. 1959 erhält der Film in Cannes den Spezialpreis der Jury. Furore in aller Welt, bis nach Mexiko. Erzählt wird die Liebe zwischen einer Jüdin und einem deutschen Unteroffizier. Eine Liebe durch Stacheldraht und eine Liebe unterwegs – Häftlinge auf dem Weg von Griechenland nach Auschwitz, Transportstopp in einem bulgarischen Dorf. Der Deutsche kann die Jüdin nicht retten – und geht in den Widerstand. Der Defa-Film läuft in Cannes als Beitrag aus Sofia, denn der westdeutsche Alleinvertretungsanspruch lässt DDR-Filme nicht zu.

Im Jahre 2005 übrigens stößt Wagenstein in der Sofioter Zeitung »Duma« eine scharfe Debatte an. Er wendet sich gegen die »romantische Lüge«, nach der die Bulgaren einmütig gegen die Judenverfolgung aufgetreten seien und so ihren jüdischen Mitbürgern das Leben gerettet hätten. Dies war die offizielle Lesart zu Sozialismuszeiten, die sogar in den absurden Versuch mündete, Staats- und Parteichef Schiwkow eine entscheidende Rolle bei der Rettung der bulgarischen Juden anzudichten und ihn für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen.

Lion Feuchtwangers »Goya oder der arge Weg der Erkenntnis«, 1971: der Horror der Ideologien – gespiegelt im Terror der Inquisition. Christa Wolf sprach von »dieser unerhörten Spannung, in der Wolf gelebt und unter der er vielleicht mehr als jeder andere gelitten hat. Wer den Goya-Film von ihm und Wagenstein gesehen hat, weiß, wie es in Konrad Wolf aussah«. Wagenstein: »Wie sollte ein Kommunist wahr bleiben, ohne Stachel zu werden wider sein eigenes Herz?« Beide, Wolf wie Wagenstein, spürten das Zerreißende und wollten in ihrem nächsten Film, »Troika«, einer autobiografisch grundierten Auseinandersetzung Konrad Wolfs mit der tragisch-tödlichen Geschichte des Stalinismus, direkter, deutlicher vorgehen. Reales Trauma, filmischer Traum – nie verwirklicht. Im Frühjahr 1989 erschien Markus Wolfs Buch »Die Troika«, in dem er die nichtgedrehte Geschichte dieses Films protokolliert.

Geboren wird Wagenstein 1922 in Plovdiv, er ist Sohn sephardischer Juden. Den Vater sieht der Vierjährige nur durch Gefängnisgitter. Ein Bolschewik, Anfang der zwanziger Jahre an Aufständen beteiligt. Haft, danach Emigration nach Frankreich. Paris hat alles, vor allem: noch mehr Armut als Bulgarien. Als es 1934 eine Generalamnestie gibt, kehren die Wagensteins zurück – in ein faschistisches Land. Es wirkt wie eine Provinz Mussolinis. Mit dem Einmarsch der Deutschen wird Wagenstein Partisan.

Die Widerstandskämpfer stecken das Pelzlager in Brand, in dem wärmende Jacken für die Stalingrad-Truppen lagern. Viel Mut, kein Geld – nicht mal für Schuhe. Partisanen als Barfuß-Bande. Ein Bankraub misslingt, es gibt Tote, Wagenstein flieht, ein Fahndungsfoto und die dazugehörige Denunziation bringen ihn in die Todeszelle. Kommunist und Partisan und Jude, »ich hatte keine Chance«. 127 Tage Warten auf den letzten Blick: den in die Gewehrmündung. Was ihn rettet, sind – eine denkwürdige Paradoxie – alliierte Bombengeschwader. Sofia brennt, Menschen irren umher, verkriechen sich, fliehen oder sterben. Chaos, Evakuierung der Häftlinge, noch größeres Chaos – und endlich die Rote Armee.

1989 wird Wagensteins Wohnung in Sofia zum Organisationsbüro für die große Demonstration vom 18. November, die das Ende des bulgarischen Staatssozialismus einleitet. Vor Tausenden sagt er: »Vom blutbefleckten Platz des Himmlischen Friedens in Peking bis zum Platz des niedergeschlagenen Prager Frühlings, dem Wenzelsplatz, von der großen Chinesischen Mauer über die alten Mauern des Kreml bis zur eingestürzten Mauer der Schande in Berlin bahnt sich ein Befreiungsprozess, gleich einem Eisbrecher, seinen Weg durch das zugefrorene Meer des Lügensozialismus, und er schiebt Generalsekretäre und Parteimarionetten gleichermaßen beiseite.«

Er hat nach 1990 Romane geschrieben, etwa »Pentateuch oder Die fünf Bücher Isaaks«, erschienen im Verlag Das Neue Berlin. Die Hauptfigur überlebt zwei Weltkriege und drei Konzentrationslager sowie den Verlust von fünf Heimatländern – das funktioniert nur, wenn man vom Staatsbürger zum Schelm, vom Patrioten zum Narren wird. Da wandeln sich Rabbiner zu Vorsitzenden des Atheistenklubs, oder es gibt Alte, die in ihrer Jugend fanatisch Nationalflaggen schwenkten, den Zerfall des Habsburgerreiches herbeisehnten und nun bei Kaffee und Kuchen in Wien sitzen und über die gute alte Zeit jammern, die leider nicht wiederkommen will.

Angel Wagenstein, ein Genießer alles Relativen, lebt nach dem Motto: Erwarte den Hagel, und du erträgst den Regen! Nun wird er 100 Jahre alt.

Am heutigen Montag läuft im nd-Filmclub im Kino Toni in Berlin-Weißensee »Art is a Weapon – ein Film über Angel Wagenstein« von Andrea Simon. Mit einer Einführung von Paul Werner Wagner. Beginn: 18 Uhr.

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