»Die Netanjahus«: Eine Familie, die einen in Atem hält

Über »Die Netanjahus« vor über 60 Jahren hat Joshua Cohen einen ironischen Roman geschrieben

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 4 Min.

Ruben Blum heißt der Erzähler in Joshua Cohens Roman »Die Netanjahus«, der 2022 mit dem Pulitzer-Preis 2022 ausgezeichnet wurde. Blum ist Wirtschaftshistoriker an der Corbin Universität in Corbindale in der Nähe von New York. Er erzählt von der Jahreswende 1959/1960. Die Bürgerrechtsbewegung hat sich noch nicht voll entfaltet, und es war noch nicht lange her, da hatte ihn der »besser-namenlos-bleibende« Präsident des Historikerverbands gefragt: »Ah … Blum haben Sie gesagt? Ein jüdischer Historiker?« Doch Blum fühlte sich dadurch nicht verletzt, obwohl das wahrscheinlich die Absicht des Präsidenten war, sondern freute sich über die Doppeldeutigkeit der Aussage. Denn »tatsächlich ist die Bezeichnung gleichermaßen zutreffend wie unzutreffend. Ich bin ein jüdischer Historiker, aber ich bin kein Historiker, der sich mit jüdischer Geschichte befasst«.

Nicht immer fällt es Ruben Blum so leicht, mit solchen Mehrdeutigkeiten umzugehen. Als er im September 1959 in das Büro von Dr. Morse, des Dekans der Fakultät Geschichtswissenschaft, gerufen wird, ahnt er nicht, was auf ihn zukommt. Die Universitätsleitung säße ihm im Nacken, jammert Morse, er solle eine neue Stelle schaffen. Weil die Geschichtswissenschaften im Vergleich zu den anderen Fakultäten so reich wäre, soll es eine Stelle für einen Historiker sein, der gleichzeitig am Theologischen Seminar Bibelkunde unterrichten kann. »Vergeben Sie mir, Ruben. Anscheinend sind wir die einzige geisteswissenschaftliche Universität in Amerika, die sich der Trennung von Kirche und Staat verweigert.« Er habe nicht anders gekonnt, als nachzugeben.

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Es gäbe auch schon einen Kandidaten, einen Historiker aus Israel, den er zu einer Probevorlesung eingeladen habe. Blum soll nicht nur Teil der Auswahlkommission sein, sondern sich auch um den Kandidaten während seines Aufenthalts kümmern. Weil er doch, sagt Morse, »einer der ihren ist«. Blum schluckt. Was hat denn er, der durch und durch Amerikaner ist, mit einem Israeli zu tun? Weder spricht er Hebräisch noch ist er religiös, wenn Morse das gemeint haben sollte. Am liebsten würde er ablehnen, aber das geht nicht, weil er noch keine Festanstellung hat.

Mit »Die Netanjahus« hat Joshua Cohen einen sehr amüsanten und hintergründigen Campusroman über den Vorstellungsbesuch von Ben-Zion Netanjahu, des Vaters des derzeitigen Ministerpräsidenten, geschrieben. Es ist eine Art fiktionale biografische Erzählung, die auf die Erinnerung des 2019 verstorbenen Kritikers und Literaturwissenschaftlers Harold Bloom zurückgeht. Kurz vor seinem Tod 2019 hatte er Cohen die Geschichte des Netanjahu-Besuchs in groben Zügen erzählt. Blooms Frau Jeanne hat sie bestätigt. Naturgemäß musste Cohen vieles dazu erfinden; aber im Großen und Ganzen war es wohl so wie im Roman.

Damals sagte Ruben Blum alias Harold Bloom der Name Ben-Zion Netanjahu nichts, »nicht einmal der Nachname, der noch eine Generation vor seinem Verruf stand«. Netanjahus Forschungsschwerpunkt, recherchiert er, ist die Geschichte der spanischen Juden im Mittelalter. Die Lektüre seiner eher dürftigen Veröffentlichungen – denn lange hoffte er auf eine politische Karriere in Israel – verstören Blum, weil deren Ergebnisse ihm nicht wissenschaftlich, sondern wie ein Dogma vorkommen.

Netanjahu behauptet, dass die Katholiken immer versucht hätten, die Juden zum Konvertieren zu bringen. Aber dann hätte es Ende des 15. Jahrhunderts einen Umschwung gegeben, der dazu führte, dass 1492 auch die Konversos, die zum Christentum konvertierten spanischen Juden, vertrieben wurden. »Warum überführte die Kirche nach Dr. Netanjahus Ansicht genau die Konvertiten, die sie einen Großteil der Kreuzzugs-Ära mühevoll erworben hatte, zurück zum Judentum? Weil diese Konvertiten schlechte Katholiken waren? Nein, nicht alle. Oder weil sie zu gute Katholiken waren? Nein, auch nicht alle. Der Grund war vielmehr: Solange die Katholiken ein Volk zum Hassen brauchten, mussten die Juden ein zum Leiden bestimmtes Volk bleiben.« Folglich unterscheidet sich für Netanjahu das Jahr 1492 auch nicht von 1933 – was schon der Rabbi in Ruben Blums Kindheit behauptet hatte.

Die spätere Politik von Netanjahus mittlerem Sohn Benjamin Netanjahu und seiner Likud-Partei ist von dieser religiös geprägten Geschichtsauffassung stark geprägt. Zum Jahreswechsel 1959/1960 ist es aber etwas anderes, was Ruben Blum in Atem hält. Es ist die Familie Netanjahus, denn der Kandidat reist unerwartet nicht alleine, sondern mit seiner Frau Zila und seinen drei Söhnen an und quartiert sich ungebeten bei den Blums ein. In der kleinen Provinzstadt Corbindale ähnelt ihr Besuch dem Einschlag eines Meteoriten. Zumindest was die Folgen angeht.

Joshua Cohen: Die Netanjahus: oder vielmehr der Bericht über ein nebensächliches und letztlich sogar unbedeutendes Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie.
A.d. amerik. Engl. v. Ingo Herzke, Schöffling,
288 S., geb., 25 €.

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