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Humanistisches Potenzial
Lisa Schoß über jüdische Erfahrungen im DDR-Film
Es kommt zur richtigen Zeit, dieses Buch könnte aktueller nicht sein. In vielerlei Hinsicht. Einerseits ob des beängstigend erstarkten Einflusses von Rechtspopulisten und Rechtsradikalen in der Bundesrepublik, des latenten Antisemitismus wie auch verbaler und tätlicher Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen in jüngster Zeit. Aber auch ob des heimtückischen Überfalls der Hamas auf Israel, mit Hunderten Toten, darunter Frauen und Kinder, Massakern und Geiseln, was Kommentatoren bereits zu Vergleichen mit der Shoah bewegt. Andererseits passt sich dieses Buch trefflich ein in den in diesem Jahr auf verschiedene Weise, unter anderem mit einer Sonderausstellung im Jüdischen Museum Berlin, aber auch mit Symposien unternommenen Rückblick auf jüdisches Leben in der DDR. Lisa Schoß hat sich der Darstellung jüdischer Erfahrungen unterm Hakenkreuz im Film der DDR zugewandt.
Die Autorin ist Tochter des Schauspielers Gunter Schoß, Hauptdarsteller in der vierteiligen Fernsehserie »Die Bilder des Zeugen Schattmann« (1972), die auf dem gleichnamigen, autobiografisch gefärbten Roman des Auschwitz-Überlebenden und DDR-Schriftstellers Peter Edel beruht. Sieben Jahre vor der ebenfalls vierteiligen US-Serie »Holocaust« über die fiktive Familie Weiss ausgestrahlt!
Mit Peter Edel eröffnet Lisa Schoß ihr Werk, weil er exemplarisch für jüdisches Sein und Bewusstsein in der DDR stünde. Als Jude, Kommunist und Überlebender von sechs Konzentrationslagern war er nach der Befreiung von der Nazityrannei überzeugt, dass im Osten Deutschlands ein besseres Gesellschaftssystem geschaffen würde. »Er wollte an diesem Aufbau teilhaben, trat in die SED ein und verschrieb seine Arbeit ganz der Aufklärung über die faschistischen Verbrechen … nicht zuletzt dem Kampf gegen Antisemitismus und den Hass auf Minderheiten … Edel verhielt sich der DDR gegenüber immer loyal … Seine eigenen Erfahrungen, ein Schicksal als verfolgter Jude sowie die Traumata und Ängste, die daraus folgten, verhielten sich gleichwohl immer auch widerständig gegenüber politisch-ideologischen Deutungen und Doxa«, erläutert die Kulturwissenschaftlerin.
Offenherzig berichtet Lisa Schoß, dass es für ihren Vater ein einschneidendes Erlebnis war, das Alter Ego von Peter Edel, Frank Schattmann, zu mimen. Die zwischen dem Schriftsteller und dem Schauspieler während der Dreharbeiten aufkeimende Freundschaft habe das Denken ihres Vaters nachhaltig beeinflusst. Gunter Schoß gehörte der Generation der Kriegskinder an. Über das Verhalten seines Vaters in der NS-Zeit wusste er nicht viel. Von dessen Tod 1948 im sowjetischen Internierungslager Sachsenhausen erfuhr er erst fünf Jahrzehnte später. Herbert Schoß war SS-Mann bei der Gestapo-Leitstelle Berlin gewesen, vermutlich auch mit den gefälschten Dollar- und Pfundnoten befasst, die von Häftlingen im KZ Sachsenhausen hergestellt werden mussten – zu denen Peter Edel gehörte. Eine irre Geschichte, die selbst schon wieder einen Roman- oder Filmstoff hergeben würde.
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Nach einer ausführlichen Einleitung widmet sich die Autorin dem Antifaschismus in der DDR, exakter: Antifaschismen. Sie weist auf Ambivalenzen hin, verteidigt aber zugleich die antifaschistische Einstellung. »Nach dem Ende der DDR verschoben sich indes die Akzente«, schreibt Lisa Schoß, »Ost-Perspektiven trafen auf West-Perspektiven, Romantik auf Demontage … Im Zuge der Fokussierung auf die DDR als Diktatur und ihren Repressionscharakter ist der Antifaschismus in der Öffentlichkeit, Publizistik und Wissenschaft verschiedentlich mit Attributen bedacht worden wie ›verordnet‹, ›instrumentalisiert‹, ›missbraucht‹, ›inszeniert‹ und ›ritualisiert‹ ... Als ›größte Hypothek‹ wurde die ›versäumte Auseinandersetzung‹ mit dem Holocaust als in seiner Art einzigartiges historisches Verbrechen betrachtet.« Ein verfehlter Vorwurf. Dankenswerterweise lässt Lisa Schoß wissen, dass statt des im Westen zudem erst in den 80er Jahren gegängigen Begriffs Holocaust in der DDR Völkermord gebräuchlich war. Nebenbei bemerkt, eine exaktere Benennung als das aus dem Altgriechischen entlehnte Äquivalent für Brandopfer, das den planmäßigen, industriellen Tötungsakt verschleiert.
Auch bei der Bewertung der in der DDR entstandenen Filme herrschte nach der deutschen Vereinigung Uneinigkeit, resümiert Lisa Schoß. »Uneinigkeit« ist ein schwaches Wort. DDR-Filme wurden – bis auf einige wenige – regelrecht verdammt, wie alle angebliche Staatskunst. Lisa Schoß schreibt weiter: »Der Grund liegt in der engen Verflochtenheit von Film und Politik in der DDR. Film als massenkulturell einflussreiches Medium hatte einen hohen Stellenwert im gesellschaftspolitischen Konzept der SED, Film war Herrschafts- und Repräsentationsmittel.« Das stimmt. Aber gerade eben darob, wie die Autorin zu Recht vermutet, erklärte sich auch die hohe Zahl an Antifaschismus-Filmen sowie Publikationen zu jüdischen Erfahrungen.
Jeder in der DDR aufgewachsene Bürger dürfte ad hoc mindestens ein halbes Dutzend Filme nennen können, die sich mit der Verfolgung und Ermordung oder auch dem Widerstand von Juden und Jüdinnen in barbarischer Zeit befassten. Es begann mit »Ehe im Schatten« von Kurt Maetzig, der mit diesem Drama zugleich seine jüdische Mutter ehrte, die 1944 in den Freitod geflüchtet war. Es war der einzige Defa-Film, der zeitgleich in allen vier Sektoren Berlins Premiere feierte. Man schrieb das Jahr 1947. Jedes DDR-Schulkind kannte »Professor Mamlock« von Friedrich Wolf, 1961 verfilmt. Auf dem Cover des Buches von Lisa Schoß ist eine Schlüsselszene daraus zu sehen: Würdevoll schreitet der mit Berufsverbot belegte jüdische Arzt die Treppe seiner Klinik herunter, flankiert von SA-Männern, auf seinem weißen Kittel das Stigma »Jude«. Im folgenden Jahr befasste sich »Das zweite Gleis« mit dem Schweigen der Väter-Täter. Viel rezipiert und diskutiert wurde »Nackt unter Wölfen« von Bruno Apitz, 1963 von Frank Beyer verfilmt. Mit »Jakob der Lügner« nach dem gleichnamigen Roman von Jurek Becker produzierte jener sowohl einen weiteren »Ausnahmefilm im Genre Antifaschismus als auch im internationalen Genre ›Holocaust‹-Film«. Das Werk war gar für den Oscar nominiert.
»Jetzt und in der Stunde meines Todes« (1963) über braune Netzwerke in der Bundesrepublik hat als erster Film Sequenzen aus dem Eichmann-Prozess in Jerusalem verarbeitet, »Chronik eines Mordes« (1965) thematisierte die Traumatisierung Überlebender, nicht zuletzt durch sexuelle Gewalt, während »Lebende Ware« (1966) an die Deportation der ungarischen Juden erinnerte. »Ich war neunzehn« (1968) von Konrad Wolf griff frühzeitig Tabuthemen auf im Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten, aus dem Blickwinkel eines jungen jüdischen Deutschen: Kommunist und Offizier der Roten Armee – und jüngster Sohn von Friedrich Wolf. »Hotel Polan und seine Gäste« (1982) von Horst Seemann war als Antwort auf die US-Serie »Holocaust« gedacht. Ungezählt sind die Literaturverfilmungen mit jüdischen Sujets in der DDR von Exilautoren wie Anna Seghers und Lion Feuchtwanger.
Lisa Schoß begnügt sich nicht mit der Vorstellung von Filmen, sondern beleuchtet auch politische und kulturelle Zusammenhänge. Im letzten Jahrzehnt der DDR entdeckte die SED »eine späte Liebe für die schwindenden jüdischen Gemeinden, das deutsch-jüdische ›Erbe‹ und macht den 50. Jahrestag des Novemberpogroms zu einem groß inszenierten Staatsakt. Doch auch in der Zivilgesellschaft erwacht ein Interesse an jüdischer Kultur und Geschichte in einer seltsamen Vermengung von romantischen Ideen vom Judentum, einer Aneignung der Kultur der Opfer, als Teil einer Mode, einer Nischen- und Subkultur, einer Protestbewegung und als Mittel systemkritischer Auseinandersetzung mit einem letztlich defizitären Antifaschismus-Diskurs.« Das dürfte eine treffliche Beschreibung sein. Es waren nun die Kinder der Überlebenden und Remigranten, die ihre Familiengeschichte ergründen wollten, nach der eigenen unverwechselbaren Identität suchten, was auch Niederschlag in filmischen Produktionen fand.
»Die Schauspielerin« (1988) knüpfte an »Ehe im Schatten« an, so Lisa Schoß, »fällt jedoch zurück in das Erzählmuster vom guten Deutschen und dem passiven Juden«. Mehr noch: »›Die Schauspielerin‹ anverwandelt sich die jüdische Opferperspektive und nimmt damit Tendenzen des Diskurses im wiedervereinigten Deutschland vorweg.« Der Film adaptierte ebenfalls einen Roman: »Arrangement mit dem Tod« (1984) von Hedda Zimmer, die mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Fritz Erpenbeck, in die Sowjetunion emigriert war; während sie im Zweiten Weltkrieg für Radio Moskau arbeitete, war er für das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) tätig. Sie lebten den Widerstand, kannten keine Passivität in Zeiten der Entscheidung.
Lisa Schoß geht auf die Kehrseite ein: In den 60er Jahren seien die meisten Filmschaffenden müde geworden. Fast jeder habe bereits einen Film oder mehrere im Genre gedreht. Gewiss aus innerlicher Überzeugung. »Doch der Frust, immer ins Historische ausweichen zu müssen, war groß. Nicht zuletzt das Publikum wollte glaubwürdige Gegenwartsfilme sehen.« Und das schloss ein, auch den Alltag von Juden und Jüdinnen in der DDR zu zeigen. Jedoch Fehlanzeige. Als besonders belastend mussten Juden und Jüdinnen in der DDR jedoch die Diffamierungen von Israel empfinden.
Das Fazit der Autorin? Sie wünscht sich eine gesamtgesellschaftliche Debatte und eine gesamtdeutsche Filmgeschichte zu jüdischen Erfahrungen vor und nach 1945 sowie zur Rolle von Juden und Jüdinnen in beiden deutschen Filmkulturen. Hier sei der Befund gewagt, dass bei einem Vergleich der beiden deutschen Staaten hinsichtlich der Fülle an Filmen zur Verfolgung wie zum Widerstand von Juden und Jüdinnen in der Zeit der faschistischen Diktatur sowie bezüglich der Ermöglichung aktiven gesellschaftlichen Engagements die DDR bei Weitem die Bundesrepublik überflügelt.
Lisa Schoß: Von verschiedenen Standpunkten.
Die Darstellung jüdischer Erfahrungen im Film der DDR. Hg. v. d. Defa-Stiftung. Bertz + Fischer, 656 S., geb., 43 €.
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