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Victor Klemperer lässt sich nicht vereinnahmen

Ein Affront, gerade noch abgemildert: In Dresden konkurrierten am 9. November die Freien Wähler mit einer Lesung aus Klemperers »LTI« in der Synagoge

  • Michael Bartsch
  • Lesedauer: 7 Min.

Was für den 9. November in Dresden einen bundesweit beachteten Eklat befürchten ließ, nahm dann doch einen glimpflichen Ausgang. Zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht gegen Juden wurde bei zwei verschiedenen Veranstaltungen in der Stadt aus Victor Klemperers Hauptwerk »LTI« (Lingua Tertii Imperii) gelesen, einmal in der Neuen Synagoge, zu der das Staatsschauspiel und die Jüdische Gemeine einluden, und einmal im Stadtmuseum, veranstaltet von den Freien Wählern, denen damit die mediale Aufmerksamkeit sicher war.

Mit einer Prise Pathos könnte man resümieren, dass dieses mit Bedeutungen überladene deutsche Datum (Kaiser-Abdankung, Pogromnacht, Mauerfall) in Verknüpfung mit den Texten eines großen Geistes eine unerwartet verbindende Wirkung entfaltete. Jörg Bochow, Chefdramaturg des Dresdner Staatsschauspiels, wollte nicht einmal von einer Konkurrenz zweier parallel stattfindender Lesungen aus Klemperer biografisch gefärbter Analyse der »Sprache des Dritten Reiches« sprechen.

Die Lesung, die die von der Stadtratsfraktion Freie Wähler im Landhaus des Dresdner Stadtmuseums am Donnerstag veranstaltete, hatte vorher die Feuilletons intensiv beschäftigt. Vergessen wurde dabei, dass es sich nur um eine Reaktion auf eine viel früher angekündigte andere Lesung ebenfalls aus »LTI« handelte. Beide gehen auf ein Schreiben von Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch (Linke) vom August an die Dresdner Stadtratsfraktionen und Kulturinstitutionen zurück. Darin weist sie auf den bevorstehenden 85. Jahrestag der Reichspogromnacht Juden hin und fragt nach möglichen Plänen für diesen historisch aufgeladenen Tag.

Die lediglich vierköpfige Fraktion der Freien Wähler reagierte als erste und einzige, bekam daraufhin vom Kulturrathaus die Nutzung des Saales im Stadtmuseum, dem früheren Landhaus zugesprochen. Was inhaltlich veranstaltet werden sollte, blieb unklar. Das Dresdner Staatsschauspiel griff auf seine vor zwei Jahren schon einmal in der großen Synagoge vorgetragene »LTI«-Lesung zurück. Mitte September verständigte man sich mit der jüdischen Besht-Yeshiva-Glaubensrichtung auf eine Lesung in deren neuer, kleiner Synagoge auf dem Gelände des alten Leipziger Bahnhof, von dem aus Dresdner Juden einst deportiert wurden.

Umso mehr sorgte in der letzten Oktoberwoche eine plötzlich auftauchende Konkurrenz in Literatenkreisen für Aufruhr. Auf ihrer Facebook-Seite kündigten die Freien Wähler für die gleiche Abendstunde ebenfalls eine »LTI«-Lesung im gebuchten Stadtmuseum an. Das wurde als Affront empfunden, das Kulturrathaus fühlte sich überrumpelt. Der Verdacht auf eine politische Instrumentalisierung von Klemperer, dem die Nazis aufgrund seiner jüdischen Herkunft seine Romanistik-Professur in Dresden entzogen hatten, lag nahe.

Denn die FW-Stadtratsfraktion sammelt nach rechts abgedriftete Aussteiger anderer Fraktionen, der Dresdner Verein wird wegen seiner Rechtslastigkeit nicht von der Bundesvereinigung Freie Wähler gestützt und benutzt nur deren Etikett. Exponentin in Kulturfragen ist die Loschwitzer Buchhändlerin Susanne Dagen, die offen mit dem berüchtigten Antaios-Verlag des rechten Verlegers Götz Kubitschek zusammenarbeitet. Bekannt wurde sie mit der »Charta 2017« nach den Übergriffen auf rechte Verlage bei der Frankfurter Buchmesse, als sie sich und Gesinnungsgenossen mit der berühmten Prager »Charta 77« gleichstellten, mit jener Erklärung, mit der linke Intellektuelle in der ČSSR 1977 gegen Menschenrechtsverletzungen im sozialistischen Staat protestiert hatten.

Unter den von den Freien Wählern angekündigten Vorlesern dürfte der Schauspieler und Kabarettist Uwe Steimle der bekannteste sein. Nachdem er beim MDR geschasst wurde und keine Filmaufträge mehr erhielt, fristet er beim ostalgischen, an die DDR-Nachrichtensendung »Aktuelle Kamera« angelehnten gleichnamigen Youtube-Kanal nur noch ein peinliches Dasein als ewiger Rächer der gekränkten ostdeutschen Seele. Das Jingle stammt aus Adlershofer Zeiten, im Hintergrund erscheint eine Karte der DDR mit ihren 15 Bezirken. Wie zutreffend viele West-Klischees und Kolportagen über Ossis und speziell über Sachsen sind, lässt sich anhand dieser Sendung zeigen.

Eine Diskussion ist müßig, ob Steimle nun als rechts oder völkisch bezeichnet werden kann. Der textspendende Teleprompter, zu dem er auffällig oft vom passenden Ohrensessel aus herüberblickt, steht jedenfalls weit rechts. Steimle gab auf Youtube in der 124. Ausgabe der »Aktuellen Kamera« die Richtung für die bevorstehende Klemperer-Lesung mit mehreren unsäglichen Vergleichen zwischen damaliger Nazi- und heutiger angeblicher Gesinnungsdiktatur vor. »Das ist Sprache des Grünen Reiches«, sagte er mit Blick auf west-ostdeutsche Titulierungen, »genau das ist Victor Klemperer«. Den man ja angeblich nur würdigen wolle: »Und ehrten ihn, indem sie sich nützten«, zitierte er in makabrer Weise eine Zeile aus dem Brecht-Gedicht »Die Teppichweber von Kujan Bulak ehren Lenin«.

Vor allem wegen der Vorlesenden verweigerte deshalb der Reclam-Verlag zunächst seine Zustimmung, lenkte aber dann ein. Kulturbürgermeisterin Klepsch zog die Genehmigung zur Saalnutzung zurück, wurde aber vom höherrangigen ersten Bürgermeister Jan Donhauser (CDU) zurückgepfiffen. Völlig einseitig richtete sich die mediale Aufmerksamkeit nun erst recht auf die Lesung im Landhaus, ein publizistischer Erfolg der Freien Wähler. Von denen erwartete man nun die Attitüde, sie seien die wahren Erben des Freigeistes Klemperer und zeigten nun mit Hilfe seiner Analyse der Nazisprache, wie wir auch heute wieder beherrscht würden. Die ursprüngliche Lesung in der Synagoge blieb unbeachtet.

Der Verlauf der von etwa 200 Bürgern besuchten Freien-Wähler-Lesung rechtfertigte die Befürchtungen dann doch nicht. Die vier Lesenden, neben Steimle die ehemalige grüne Land- und Bundestagsabgeordnete Antje Hermenau, der 2021 aus der CDU-Bundestagsfraktion ausgeschiedene Arnold Vaatz und der Dresdner Literaturprofessor Ulrich Fröschle schilderten lediglich ihre persönlich-biografischen Bezüge zu Klemperer und seinem Werk, lasen aus Kapiteln wie »Die deutsche Wurzel«, »An einem einzigen Arbeitstag« oder Passagen zur Technisierung der Sprache. Nur Steimle konnte sich das Ningeln auch bei dieser Gelegenheit nicht verkneifen und entfachte den Corona-Impfkampf neu.

Auch Buchhändlerin Susanne Dagen verkniff sich die sonst von ihr gewohnten Provokationen und Vereinnahmungsversuche. Möglicherweise aus der Erkenntnis heraus, dass diese nach hinten losgehen könnten. Klemperer befasst sich im 17. Kapitel der LTI beispielsweise mit dem Begriff »System«, mit dem die Nazis die Weimarer Republik denunzierten. Heute auf der Straße und in Kreisen der Lesenden ist der Begriff in gleicher Intention wieder zu hören, wenn etwa die »Systemmedien« attackiert werden. Und wo die Urheber heutiger Sprachbarbarei sitzen, lässt sich anhand von AfD-Äußerungen und -Texten leicht nachweisen.

Trotz dieses mehr oder weniger erträglichen Verlaufs bleibt der Vorwurf an die Veranstalter und die Lesenden, dass sie in instinkt- und geschmackloser Weise ausgerechnet am Gedenktag an die Reichspogromnacht an einer Inszenierung mitgewirkt haben, die eine Lesung aus dem gleichen Buch in der Synagoge desavouiert hat. Mehr noch, das war eine kalkulierte Provokation. Nun haben Hermenau, Steimle und Vaatz ihre besten Jahre und einen Karriereknick hinter sich und können als Generalfrustrierte konstruktiv nichts mehr zu einem integrativen Diskurs in der Gesellschaft beitragen. Das rechtfertigt diesen demonstrativen Fehlgriff aber nicht.

Dem Publikum im Landhaus schien das wenig auszumachen. Eine Mischung aus Steimle-Fans, Sachsen im typischen Gestus der ewig beleidigten Leberwurscht, aber auch aufgeklärte, mit »LTI« noch aus DDR-Zeiten vertraute Bürger und Wächter, die bewusst diese Lesung gewählt hatten, um einen möglichen Missbrauch Klemperers zu dokumentieren. Das hatte die Lesung von Schauspiel und Synagoge nicht nötig. Geschätzt fast die gleiche Zahl an Besuchern drängte sich auf ungleich kleinerem Raum zusammen, meist jüngere, wache und ausgesprochen belesene Leute, wie Gespräche danach zeigten.

Klar wurde: Es funktioniert nicht, Victor Klemperer von rechts, sozusagen als Großvater der »Widerstand«-Brüller auf der Straße und dumpfen Gegenallesseier von heute, zu reklamieren. Ja man könnte sogar die Hoffnung hegen, dass man sich auf Größen wie ihn über die politischen Lagergräben hinweg noch verständigen könne. Wäre da nicht Arnold Vaatz gewesen, der in seiner gewohnt giftigen Sprache am Tag nach der Lesung über eine Mitteilung der Dagen-Buchhandlung scharf nachwaschen musste, nachdem Steimle schon scharf vorgewaschen hatte.

Vaatz zog über die »Schnappatmung« der Kritiker der Freien-Wähler-Veranstaltung her und beleidigte die bislang erfolgreichste Dresdner Kulturbürgermeisterin seit 1990 als »Fehlbesetzung«, die dem Ruf Dresdens schade. Vaatzens Ruf hingegen kann man nicht mehr schädigen. Der fanatische (LTI!) DDR-Hasser schien nicht einmal bemerkt zu haben, dass mit Uwe Steimle ein Verklärer des sozialistischen »Unsere Heimat«-Idylls neben ihm saß.

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