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Weimer irritiert mit Boykott-Behauptung
Kulturstaatsministerium nennt keine Belege für zunehmende »Aktionen« gegen jüdische Kulturschaffende
Am ersten Tag nach seinem Amtsantritt traf der neue Kulturstaatsminister Wolfram Weimer (CDU) am Mittwoch im Bundeskanzleramt den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster. Gemeinsam wollen sie Antisemitismus »insbesondere auch im Kulturbereich noch entschlossener und wirksamer« bekämpfen. Hintergrund dieser Initiative sind die Kritik des Zentralrats an antisemitischen Darstellungen auf der Documenta in Kassel 2022 sowie Äußerungen zum Gaza-Krieg während der Berlinale im Vorjahr. Dort hatten Filmschaffende Israels Vorgehen im Gaza-Krieg kritisiert und einen Waffenstillstand gefordert. Die damalige Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) geriet ins Visier des Zentralratspräsidenten, weil sie während der Gala applaudiert hatte.
Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) ließ nach dem Treffen mit Schuster verlauten, seit dem Angriff palästinensischer Gruppen auf Israel am 7. Oktober 2023 seien »zunehmend Boykottaufrufe oder andere Aktionen gegen jüdische Künstlerinnen und Künstler« zu beobachten. Dem wolle sich der Konservative »mit aller Kraft entgegenstellen«. Weimer kündigte an, »in enger Zusammenarbeit« mit dem Zentralrat konkrete Maßnahmen erarbeiten zu wollen.
Die Behauptung verstärkter »Boykottaufrufe oder anderer Aktionen« gegen jüdische Einzelpersonen hält einer Überprüfung jedoch nicht stand. Auf Nachfrage des »nd« nennt auch Weimers Büro lediglich zwei Deutschland betreffende Fälle. Der erste bezieht sich auf ein Gastspiel der Batsheva Dance Company bei den Berliner Festspielen im Januar 2025. Verantwortlich für den Protest zeichneten damals Aktivist*innen und Gruppen aus der Berliner Tanzszene. »Als Organisator*innen der Protestaktion möchten wir unmissverständlich klarstellen, dass sich unsere Aktion stets gegen die jahrzehntelange Komplizenschaft der Batsheva Dance Company mit dem israelischen Staat und seiner faschistischen Regierung richtete, die palästinensisches Land durch die Begehung eines Genozids besetzt«, erklärt die Gruppe auf Anfrage des »nd«. Aufrufe hätten sich nie gegen einzelne Tänzer*innen oder jüdische Menschen gerichtet, sondern gegen eine Institution, »die staatliche Förderung von einem international als Apartheidstaat eingestuften Land erhält«.
Als weiteres Beispiel für angebliche Cancel-Aufrufe gegen Jüd*innen führt das BKM-Büro das Berliner Festival Pop-Kultur an, das mehrmals Adressat der Kampagne »Boykott, Desinvestition und Sanktionen« (BDS) war. Die Kampagne kritisierte, dass dort Künstler*innen auftraten, deren Reisekosten von der israelischen Regierung mitfinanziert worden waren. Aufrufe gegen diese Personen gab es jedoch nicht.
Auf Nachfrage des »nd« nennt Weimers Büro lediglich zwei Deutschland betreffende Fälle.
Eine Sprecherin Weimers nennt weitere Einrichtungen in Deutschland, gegen die es Boykottaufrufe der BDS-Bewegung gegeben hat – diese identifizieren sich jedoch nicht als jüdisch. Dazu zählen der Berliner Technoclub About Blank, das Fusion-Festival an der Müritz, die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen oder das European Media Art Festival Osnabrück.
Die BKM-Sprecherin verweist auch auf die Art not Genocide Alliance (ANGA), die allerdings für die Kunstbiennale in Venedig gegründet wurde und erreichen will, dass Israel von der Veranstaltung ausgeschlossen wird. »Die Kampagne zielt auf Institutionen und Einzelpersonen ab, die den zionistischen Staat repräsentieren, nicht auf jüdische Künstler*innen«, versichert ANGA dem »nd«. Kritisiert wird die »absichtliche Vermischung von Antizionismus mit Antisemitismus – eine Taktik, um legitime Kritik zum Schweigen zu bringen und offene Debatten über israelische Politik zu unterdrücken«.
Stellt Weimer also eine Zunahme von »Aktionen« gegen jüdische Künstler*innen nur in den Raum, um eine verschärfte Gangart gegen Israel-Kritik im Kulturbereich zu rechtfertigen? In diese Richtung argumentiert der Antisemitismusforscher Peter Ullrich: »Wer etwas kritisieren will, sagt meist, es werde immer schlimmer. Das gilt bei dem sensiblen Thema ›Antisemitismus‹ umso mehr. Es besteht immer die Angst, es werde sonst nicht ernst genug genommen.« Zwar beobachtet auch Ullrich eine Zunahme antisemitischer Vorfälle. »Jedoch ist die Schwelle immer weiter gesunken, ab der Kritik an Israels ethnischen Säuberungen in Gaza als Antisemitismus und Israel-Hass gebrandmarkt wurde.«
»Kultur sollte Raum geben für Dialog und Debatte, für Kritik und Kontroverse«, schreibt Weimers Büro dem »nd«. Mit dem Vorgehen gegen Boykottkampagnen wolle man dazu beitragen, »diesen Raum zu schützen und zu erhalten«.
Es gibt jedoch Befürchtungen, dass der neue Kulturstaatsminister eine Antisemitismusklausel auf den Weg bringen könnte – ähnlich wie es Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU) bereits erfolglos versuchte: Im Koalitionsvertrag steht, dass Projekte mit antisemitischen Zielen keine Förderung erhalten sollen. Unklar ist, wer für die Definition dieser Vorhaben als »antisemitisch« verantwortlich sein soll.
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Neben der BDS-Kampagne könnte Weimer auch das Netzwerk Strike Germany im Auge haben, das die BKM-Sprecherin im Zusammenhang mit Boykottaufrufen gegen Kulturveranstaltungen in Deutschland explizit erwähnt. Darin organisieren sich Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Kulturschaffende gegen den Gaza-Krieg und die deutsche Nahost-Politik, aber auch gegen Einschränkungen der Meinungsfreiheit bei diesem Thema. Ein von vielen Hundert Menschen unterzeichneter Aufruf von Strike Germany gilt als einer der Gründe für das Scheitern der Berliner Antisemitismusklausel im Kulturbereich.
Bemerkenswert ist, dass es in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland tatsächlich mehrere Aufrufe zur Absage von Auftritten jüdischer Künstler*innen gab – diese kamen jedoch vom Zentralrat selbst und richteten sich gegen antizionistische oder israelkritische Personen.
2022 setzte die Documenta nach einer Intervention von Präsident Schuster die geplante Online-Gesprächsrunde »We need to talk!« aus, mit der die Weltkunstausstellung über Antisemitismusvorwürfe diskutieren wollte. Nach der Berlinale im vergangenen Jahr forderte der Zentralratspräsident zudem Konsequenzen, nachdem Yuval Abraham, der israelische Ko-Regisseur des Oscar-preisgekrönten Films »No Other Land«, von »Apartheid« im Westjordanland gesprochen hatte. Ebenfalls im vergangenen Jahr sollte der jüdischen Philosophin Judith Butler der von der Stadt Frankfurt am Main verliehene Adorno-Preis aberkannt werden. Für diesen Boykott hatte sich besonders die Stadtverordnete Jutta Ditfurth (Ökolinx) eingesetzt.
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