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Klassenkampf statt Denkmal
Eine Sammlung mit Briefen, Reden und Interviews erinnert an den Widerstandskämpfer und Gewerkschafter Willi Bleicher
Zum 80. Jahrestag der Zerschlagung des Nationalsozialismus wurde dieses Jahr einmal mehr deutlich, wie sehr die Antifaschist*innen heute fehlen, die im Widerstand waren und über ihre Zeit in der Illegalität, im Exil und meistens in den faschistischen Konzentrationslagern berichten konnten. Es war nur eine kleine Zahl von Männern und Frauen, die aber in der BRD zahlreiche junge Menschen beeindruckten und mit dazu beigetragen hatten, dass diese selbst Antifaschist*innen wurden. Zu diesen inspirierenden Personen gehörte auch Willi Bleicher. Dass er heute fast vergessen ist, liegt auch daran, weil er schon 1981 mit 74 Jahren verstorben ist. Es ist daher überaus verdienstvoll, dass der Historiker Hermann G. Abmayr im Schmetterling-Verlag unter dem Titel »Texte eines Widerständigen« auf über 450 Seiten nun Schriften von Bleicher veröffentlicht und politisch eingeordnet hat.
Vom Hilfsarbeiter zum Widerstand
Abmayr hatte sich bereits vor 40 Jahren mit der Biografie von Willi Bleicher beschäftigt und 1992 das Buch »Wir brauchen kein Denkmal – Willi Bleicher: Der Arbeiterführer und seine Erben« herausgegeben, das lange Zeit vergriffen war und nun als E-Book neu aufgelegt wurde. Schon der Titel macht deutlich, was sich in den letzten 30 Jahren verändert hat: Bleichers Erben und Schüler, wie Eugen Loderer und Franz Steinkühler, sind heute schon vergessen oder haben – wie der Erfinder der kapitalgetriebenen Rente, Walter Riester – einen politischen Weg genommen, den der lebenslange Marxist Bleicher nicht verteidigen würde. Bleicher war vor 30 Jahren noch mit jenem Ausspruch bekannt, der auch zum Titel des Filmporträts über ihn wurde: »Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken«.
In »Texte eines Widerständigen« ist eine Rede Bleichers zur Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises im Jahr 1978 abgedruckt, in der er auf die Hintergründe dieses Satzes einging: »Ich liebte sie nicht, meine Schullehrer, die mir als siebenjährigen Jungen befahlen, mich zu bücken, damit der Rohrstock nicht nur meinem Hinterteil Schmerzen bereitete, sondern auch meinem kindlichen Gemüt. So lernte ich beizeiten die Erkenntnis, mit welchen Mitteln und Methoden die Menschen kleingemacht werden.«
Bleicher, geboren 1907, war kein Intellektueller gewesen. Er war zunächst Hilfsarbeiter, erst im Bäcker- dann im Metallgewerbe. Nach 1945 war er Funktionär der IG Metall in Baden-Württemberg und gehörte dort zu den linken Gewerkschafter*innen mit einem kommunistischen Hintergrund. Und auch für ihn gilt, dass Arbeiter*innen tendenziell wenige schriftliche Zeugnisse hinterlassen: Auf den ersten 100 Seiten sind die Briefe abgedruckt, die Bleicher aus den verschiedenen NS-Gefängnissen und dann dem KZ-Buchenwald an unterschiedliche Familienmitglieder geschrieben hat. Es wird deutlich, dass er sich zu politischen Fragen nicht äußern durfte. Vielmehr bittet er um etwas zu essen oder um »die Wasch«, was schwäbisch saubere Wäsche bedeutet. Fast in allen Briefen betont er, dass es ihm gut gehe und sich die Adressat*innen keine Sorgen machen sollten.
Wie es ihm wirklich ging, zeigt sich schon darin, dass Bleicher 1936 die Geburtstagsgrüße an seine Mutter mit der Hoffnung beendete, er würde im nächsten Jahr wieder zu Hause sein. 1939 konnte er nur noch schreiben, dass er diesen Wunsch jetzt schon so oft geäußert hätte und er bisher nicht in Erfüllung gegangen sei. Dabei sollte die schlimmste Zeit seiner Gefangenschaft erst noch kommen. In den gesammelten Texten veröffentlicht Abmayr ein Interview, das Bleicher 1973 mit dem Fernsehjournalisten Klaus Ullrich führte. Dieser plante eine Bleicher-Biografie, zu der es nie gekommen ist. Das im Nachlass von Ullrich gefundene Tonband mit dem Gespräch ist hier erstmals publiziert. Bleicher schildert darin, wie er nach der Verbüßung seiner Haftstrafe in das KZ Buchenwald deportiert und dort Teil der kommunistischen Widerstandsbewegung wurde. Ihm blieben auch die mit schwerer Folter verbundene Verschleppung in den Bunker und die Todesmärsche in den letzten Wochen des NS nicht erspart.
Enttäuschung und Einheit
Das Interview beeindruckt jedoch auch, weil Bleicher tiefe Einblicke in das Leben einer Arbeiter*innenfamilie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gibt. Die Schule erlebte der junge Bleicher als autoritäre Drillanstalt. »Was waren die Lehrer? Das waren Unteroffiziere«, heißt es in einem seiner Texte. Doch es wird auch deutlich, wie wichtig Bleicher schon in jungen Jahren die Aneignung von Bildung war. Im kommunistischen Jugendverband verschaffte er sich Bücher und gründete einen Lesekreis zum Thema Geschichte der Arbeiter*innenbewegung. Bleicher beschreibt, wie er in Opposition zum Kurs der KPD unter Thälmann geriet und sich in der Kommunistischen Opposition organisierte, die schon früh für ein großes Bündnis der Arbeiter*innenparteien gegen den wachsenden NS eintrat und sich auch in der Gewerkschaftspolitik am Einheitsgedanken orientierte.
Doch auch mit der KPO machte Bleicher nicht nur positive Erfahrungen. So berichtet er, dass er auf der Flucht vor der Verfolgung ohne Geld und Kontakte in einer französischen Stadt von Genoss*innen abgewiesen wurde. Später erfuhr er, dass er aufgrund einer innerparteilichen Intrige für einen Spitzel des NS gehalten wurde – ein einschneidendes Erlebnis, das Bleicher noch 50 Jahre später in Erinnerung bleibt: »Das war am Pfingstmontag 1934. Das war das Schlimmste, was ich in all den Jahren mitgemacht habe. Ich kann mich sehr wohl daran erinnern, dass ich zum ersten Mal mit dem Gedanken des Selbstmords spielte.«
Gegen jeden Nazismus
Trotz einer drohenden Verhaftung entschied sich Bleicher, zurück nach Deutschland zu gehen. Seine Arbeit in der illegalen KPO setzte er entgegen der Enttäuschungen bis zu seiner Verhaftung 1936 fort. Erst im April 1945 wird er von der US-Armee befreit. Er kehrt zurück nach Stuttgart und stürzt sich wie viele Widerstandskämpfer*innen sofort wieder in die politische Arbeit in der IG Metall und der KPD, aus der er 1950 austrat. Dabei ist ihm aus den Erfahrungen mit dem Aufstieg der Nazibewegung die Einheit der Arbeiter*innenbewegung ein besonderes Anliegen.
In der zweiten Hälfte des Buches sind neben einem Interview mit Erasmus Schöfer und Erhard Korn verschiedene Reden von Bleicher auf Gewerkschaftskongressen veröffentlicht. Oft sind es nur kurze Berichte, in denen er zitiert wird. Hier äußert er auch gelegentlich Selbstkritik über eine Gewerkschaftsbürokratie, die sich zunehmend in den Kapitalismus integriert. Nach seinem Ausscheiden aus allen Gewerkschaftsfunktionen beim Erreichen des Rentenalters hatte Bleicher noch einige Jahre Gelegenheit, auf antifaschistischen Demonstrationen oder Preisverleihungen aufzutreten. Auch diese Reden sind dokumentiert. Er meldete sich zu Wort, wenn alte SS-Männer sich zu Kameradschaftstreffen versammelten, und er warnte vor allen Formen des Neonazismus. Dabei sah er die Gefahr nicht nur am rechten Rand. Besonders die Kanzlerkandidatur des CSU-Rechtsaußen Franz Josef Strauß, der bekanntlich beste Kontakte zu Faschisten im In- und Ausland hatte, war für Bleicher Anlass zu Warnungen vor einer neuen Form des Faschismus.
Hier nahm er den Standpunkt als Marxist ein, der in der NS-Bewegung wie in allen Faschismen eine Herrschaftsform des Kapitals sah und der die Überzeugung hatte, dass nur eine auf dem Boden des Klassenkampfs stehende Arbeiter*innenbewegung den Faschismus verhindern könne. Dabei sprach er auch deutlich vom historischen Versagen der Arbeiter*innenbewegung in Deutschland. Er forderte sogar ein Schuldbekenntnis der Arbeiter*innenklasse in Deutschland, dass sie, anders als in Österreich und Spanien, kampflos vor dem Faschismus kapituliert habe.
Früh äußerte er sich auch zum wiedererstarkenden Antisemitismus. Weil er im KZ Buchenwald den jüdischen Jungen Jerzy Zweig vor der Deportation versteckt hatte, wurde Bleicher 1965 in der israelischen Gedenkstätte Yad Vaschem als Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet. Es ist gut, dass Abmayr mit dem Buch an einen antifaschistischen Gewerkschafter erinnert, der kein Denkmal braucht – die Arbeit an einer zeitgemäßen linken Arbeiter*innenorganisierung wäre die größte Ehrung für ihn.
Hermann G. Abmayr (Hrsg.): Willi Bleicher. Texte eines Widerständigen. Briefe aus dem KZ, Reden und Interviews. Schmetterling-Verlag 2025, 460 S., br., 24,80 €.
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