Film »Stiller«: Werde endlich du selbst!

Regisseur Stefan Haupt wagt sich an Max Frischs Roman »Stiller«

Kitschfaktor im roten Bereich: Paula Beer tanzt »Schwanensee«.
Kitschfaktor im roten Bereich: Paula Beer tanzt »Schwanensee«.

Die Romane von Max Frisch sind von komplexen Erzählstrukturen, langen inneren Monologen und ausführlichen Beschreibungen von Seelenzuständen geprägt. Das hat Frisch zu einem der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gemacht. Aber lassen sich seine Romane auch in eine filmische Sprache übersetzen? Das scheint schwer, weshalb es auch nur wenige Verfilmungen seiner Erzählungen gibt. Die bekannteste ist wohl Volker Schlöndorffs »Homo Faber« von 1991, die gleichwohl als gescheitert gilt. Eine zeitgenössische Kritik lautete: »Trotz starker Besetzung will es Volker Schlöndorff nicht gelingen, der schulischen Pflichtlektüre Leben einzuhauchen«.

Eine gesunde Skepsis gegenüber der Verfilmung von Frischs Roman »Stiller« sei dem Kritiker also verziehen, zumal schon das Buch einiges Durchhaltevermögen abverlangt. Für heutige Lesegewohnheiten sind die Aufzeichnungen Stillers durchaus als bisweilen langatmig, ungeordnet und sprunghaft anzusehen. Als Lesestoff für die Schule wäre das Buch im heutigen Zeitalter der kurzen Clips und noch kürzerer Aufmerksamkeitsspannen bei jungen Leuten nicht mehr vorstellbar.

Nur, wie soll man beweisen, dass man jemand nicht ist?!

»Ich bin nicht Stiller!« lautet der erste Satz in der Buchvorlage; im Film fällt er erst später, nachdem James White bei seiner Einreise in die Schweiz festgenommen wird. Für die Polizei ist er mit dem vor sieben Jahren spurlos verschwundenen Bildhauer Anatol Ludwig Stiller identisch, der wiederum wegen einer politischen Straftat auf der Fahndungsliste steht. Frühere Freunde und auch seine Frau Julika (Paula Beer), die man aus Paris anreisen lässt, sind sich sicher, den Vermissten vor sich zu haben. Er aber widersetzt sich dieser Festlegung: »Ich bin nicht Stiller!« Nur, wie soll man beweisen, dass man jemand nicht ist?!

Gespielt wird Stiller/White von dem stets brillanten Albrecht Schuch. In seiner strikten Weigerung, eine fremde Identität verpasst zu bekommen, entwickelt Schuch einige Überzeugungskraft, wie ja auch der Roman lange die Perspektive Whites einnimmt. Erst allmählich schält sich heraus, dass es hier um ein grundlegendes Identitätsproblem geht. Stiller hat vor sieben Jahren alle Brücken hinter sich abgebrochen und ist vor einem Alltag geflohen, in dem er nur mehr ein auswechselbares Rädchen war, dessen Kunst niemand wirklich brauchte. Nun will ihn das »System« wieder in sein Hamsterrad zwingen, ihn in sein Dasein als Konsument und mittelmäßiger Auftragskünstler zurückholen.

Im Buch kommen wir durch die tagebuchartigen Aufzeichnungen Whites in der Untersuchungshaft, in denen er sich selbst mit seiner Vergangenheit konfrontiert, der »Wahrheit« allmählich näher. Filmisch ist das schwer umzusetzen, weshalb sich die Drehbuchautoren eine Rückblendenstruktur ausgedacht haben, um das Leben Stillers zu erzählen.

Einige Inkonsistenzen sind zu beklagen; warum der junge Stiller in den frühen Rückblenden von einem anderen Schauspieler verkörpert und erst in den späteren von Schuch gespielt wird, erschließt sich nicht, ebenso wenig, warum einige Rückblenden in Farbe und manche in Schwarz-Weiß sind. Der Kitschfaktor gerät bisweilen in den roten Bereich – wer freilich Paula Beer einmal als Balletttänzerin zu den Klängen von »Schwanensee« erleben möchte, wird angetan sein. Warum sich Beer als Julika allerdings nach all den Jahren erneut in Stiller verliebt, der sie Zeit ihrer Beziehung mit seiner Egozentrik und Gefühlskälte gequält hat, erscheint selbst dem Gutwilligen nur schwer plausibel. Die schlussendliche Auflösung der Identitätsfrage gerät zum arg konstruierten Kunstgriff, der so im Buch gar nicht vorkommt.

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Natürlich entfernt sich der Film weit von der Vorlage und strafft sie notwendigerweise erheblich, um die Zugänglichkeit zu erhöhen, die damit einhergehende Verflachung in Kauf nehmend. Allerdings stellt sich die Frage, ob der Stoff, egal ob Film oder Buch, es heute noch vermag, ein größeres Publikum zu fesseln. Die Grundidee des Romans, die Frage danach, was ein authentisches, »gutes« Leben ist und ob man seinen Prägungen entkommen und sich selbst neu erfinden kann, inszeniert der Film durchaus glaubwürdig.

Stiller ist sein eigenes Selbst fragwürdig geworden, und er verteidigt erbittert seine Freiheit, sich als ein anderer neu zu erfinden. Nur: Während in den 50er Jahren solcherlei Fragestellungen noch ein gewisses Aufregerpotenzial innewohnte, dürfte es heute zur allgemeinen Lebenserfahrung gehören, das eigene Selbstbild zu hinterfragen und nach der bestmöglichen Variante seiner selbst zu forschen, mehr noch: Wir werden permanent dazu aufgefordert. Nicht nur diverse Ratgeber oder Psychotherapien, nein, jede Werbetafel im öffentlichen Raum ruft uns zu: Optimiere dich! Verwirkliche dich selbst! Erfinde dich neu! Natürlich jeweils mithilfe des entsprechenden Produkts.

So wären einerseits die Auseinandersetzung mit der Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbild und die Frage, ob authentisches Leben möglich ist, ohne eine Rolle zu spielen, durchaus immer noch zeitgemäß; andererseits könnte der Zuschauer versucht sein, den Grundkonflikt als zu schlicht für heutige Verhältnisse und damit nicht als wirklich drängendes Problem zu empfinden. Dieser Gefahr versucht »Stiller« mit großem Ausstattungskino zu begegnen. Die Schauplätze sind authentisch hergerichtet, das 50er-Jahre-Zeitkolorit gut getroffen, die Kostüme erlesen. Paula Beer darf prächtige Kleider zur Schau stellen, Autofahren bedeutet noch Genuss ohne Reue, selbst das Gefängnis erscheint eher als gediegener Ort der inneren Kontemplation denn als Leidensstätte.

Soll man dem Film nun seine Hochglanzästhetik vorwerfen? Das kommt auf die Erwartungen an und ganz sicher darauf, ob der Zuschauer mit dem Roman vertraut ist oder nicht. Changierend zwischen Popcorn-Kino und Autorenfilm, ist »Stiller« weder Fisch noch Fleisch.

»Stiller«, Deutschland/Schweiz. Regie: Stefan Haupt. Mit: Paula Beer, Albrecht Schuch, Marie Leuenberger. 90 Min. Start: 30. Oktober

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