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Der Preis des Fortschritts im Amazonas-Regenwald

Kleinbauern und Indigene leiden besonders unter dem Raubbau am Weltnaturerbe. Doch bei der Weltklimakonferenz sitzen sie nicht am Verhandlungstisch

Immer noch bedroht: Der Amazonas-Regenwald, von dem jedes Jahr Tausende Hektar abgeholzt werden
Immer noch bedroht: Der Amazonas-Regenwald, von dem jedes Jahr Tausende Hektar abgeholzt werden

Maria Ivete Bastos dos Santos lebt mitten im Amazonas-Regenwald. Totenkopfaffen, Alligatoren und ein Meer aus Grün gehören für die gewerkschaftlich aktive Bäuerin zum Alltag – ebenso wie der Kampf um Land und gegen illegalen Holzeinschlag, der ihre Lebensgrundlage akut gefährdet.

Einmal pro Woche steht Bastos auf dem Biomarkt vor der Universität von Santarém. Sie verkauft Früchte, Maniokmehl, Kakao und vieles mehr – alles, was sie gemeinsam mit ihrem Mann auf ihrer kleinen Farm in der Region Aninduba erntet. Drei Stunden dauert die Fahrt mit der Fähre über den Amazonas: vom abgelegenen Dorf mitten im Regenwald bis nach Santarém, der mit über 300 000 Einwohner*innen zweitgrößten Stadt des Amazonasbeckens nach Manaus.

»Rund 50 Familien leben hier und insgesamt gibt es in der Region Dutzende Dörfer und mehrere indigene Gemeinden, die den Regenwald nachhaltig nutzen«, erzählt die 58-Jährige. »Doch der Druck ist hoch.« Sie zieht die Stirn in Falten.

Lago Grande heißt die von Flüssen, Seen und Sümpfen durchzogene Region im brasilianischen Bundesstaat Pará, die seit 2016 einmal täglich von einer Fähre angefahren wird. Für die Gewerkschafterin, die die Interessen der Kleinbäuer*innen vertritt, ist diese Verkehrsverbindung Fluch und Segen zugleich.

Ein Fluch, weil ein Fähranschluss – ebenso wie eine Straße oder eine Bahnlinie – ganze Regionen für die Ausbeutung ihrer natürlichen Ressourcen öffnet. »Holzunternehmen, Sojabauern, aber auch Bergbau- und Erdölfirmen haben unsere Region im Visier. Mehrfach habe ich schon Anzeige erstattet, wenn wieder Lkw mit Edelhölzern wie Copaíba oder Cumaru aus der Region Lago Grande abtransportiert werden.«

Maria Ivete Bastos dos Santos, Bäuerin und Aktivistin im brasilianischen Amazonas-Regenwald
Maria Ivete Bastos dos Santos, Bäuerin und Aktivistin im brasilianischen Amazonas-Regenwald

Um die Interessen der Kleinbäuer*innen zu vertreten, ist sie regelmäßig in Santarém. Dafür ist der Fähranschluss für sie persönlich zugleich ein Segen: Sie erreicht nun schneller das Gewerkschaftsbüro oder den Biomarkt vor der Universität. Dort findet heute eine Konferenz im Vorfeld der UN-Klimakonferenz (COP 30) statt, auf der sich vom 6. bis 21. November in Belém die Weltgemeinschaft trifft. Bei der Tagung in Santarém bereiten sich zivilgesellschaftliche Organisationen und indigene Vertreter*innen auf dieses globale Ereignis vor.

Als Vorsitzende der Gewerkschaft der Landarbeiter*innen von Santarém macht Maria Ivete Bastos dos Santos auf den wachsenden Druck aufmerksam, dem Gemeinden und indigene Gruppen ausgesetzt sind: »Der Sojaanbau in der Region ist ebenso ein Problem wie die drohende Konzessionierung von Regenwaldflächen für den Bergbau oder die Erdölförderung«, erläutert sie. »Der Staat ist hier kaum präsent – und wenn doch, dann steht er meist auf der Seite der Industrie und der agroindustriellen Landwirtschaft.« Weil sie ihre Kritik offen äußert, wurde die lebhafte Frau mit dem graumelierten Haar bereits mehrfach bedroht – ein Schicksal, das sie mit vielen Umwelt- und Landrechtsaktivist*innen in Brasilien teilt.

Auch Alessandra Korap kennt Anfeindungen. Die 42-Jährige mit den auffälligen Tätowierungen an Armen und Beinen ist eine Sprecherin der indigenen Ethnie der Munduruku, die im Bundesstaat Pará lebt. Seit dem 22. März 2004 besitzen sie formell einen kollektiven Landtitel über 2 381 000 Hektar. Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva verlieh ihnen damals diese Rechte – ein Gebiet, das nahezu ein Drittel der Fläche des Bundeslands Bayern umfasst. Das sei zwar ein wichtiger Schritt, aber längst nicht ausreichend, findet sie.

Flüsse trocknen aus

»Wir erleben bereits die Klimakrise. Hier verschwinden Flüsse; selbst in Santarém am Amazonas gab es im letzten Jahr viele trockene Stellen. Es sterben Fische aufgrund hoher Temperaturen und zu wenig Sauerstoff im Wasser.« Das müsse auf die Agenda der Klimakonferenz, fordert sie, und bemängelt, dass die eigentlichen Expert*innen – die Indigenen – auf der COP 30 kaum eine Rolle spielen.

Alessandra Korap hat, wie viele andere Indigene aus der Region, keine Einladung für die Weltklimakonferenz erhalten. Auch Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen sind von der Großveranstaltung ausgeschlossen. »Das ist ein Defizit. Trotzdem werde ich im Auftrag meines Volkes nach Belém reisen, um auf unsere Situation aufmerksam zu machen«, betont sie.

Ihre Kritik am brasilianischen Staat teilt sie mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen sowie indigenen Gemeinschaften. Zwar werde viel über den Schutz des Amazonaswaldes gesprochen, doch geschehe zu wenig, lautet ihr Vorwurf. Die Folgen dieser Untätigkeit seien bereits deutlich sichtbar: »Das natürliche Gleichgewicht von sechs Monaten Regen- und sechs Monaten Trockenzeit existiert längst nicht mehr. Früher war das anders.« Das habe weitreichende Folgen für die Fischer. »In der Hochwasserzeit tragen die Bäume Früchte, die ins Wasser fallen. Die Fische fressen sie, werden fett, laichen und vermehren sich.« Heute jedoch treten die Flüsse – der Amazonas, aber auch der Río Tapajós, an dem die Munduruku leben – kaum noch über die Ufer. Dadurch fallen die Früchte auf trockenen Boden, die Fische erreichen sie nicht mehr, und die Fangquoten sinken spürbar.

Amazonas & Auswege

Am 6. November beginnt in Brasilien die 30. Weltklimakonferenz – mitten im Land, wo der Amazonasregenwald in alarmierendem Tempo schwindet. Unsere Serie zeigt, wie rasant die Entwaldung voranschreitet – und welche Lösungen es für nachhaltiges Wirtschaften gibt.

Hinzu kommt, dass Sojabauern nicht nur im Bundesstaat Pará in Schutzgebiete drängen, sondern auch Bergbau- und Erdölunternehmen nach Fundstätten von Rohstoffen wie Bauxit, Kupfer oder Erdöl suchen. Dagegen kann die Gemeinde der Gewerkschafterin Maria Ivete Bastos dos Santos in Aninduba kaum etwas ausrichten. Denn obwohl die Dorfbewohner*innen dokumentiert haben, dass sie seit mehreren Dekaden in einer intakten Regenwaldregion leben, besitzen sie keinen Landtitel wie die Gemeinden der Munduruku.

Dabei ist Maria Ivete Bastos dos Santos in dem Dorf aufgewachsen; auf dem kleinen Friedhof hat sie ihre Eltern beigesetzt. Viele Familien leben dort seit Generationen, und dennoch haben sie kaum Rechte an dem Land, das sie bewirtschaften. »Die Dokumentation, dass die Gemeinden in den Regionen schon lange leben und berechtigten Anspruch auf die Flächen haben, ist extrem aufwendig – für indigene Gemeinden noch schwerer zu begreifen als für uns«, kritisiert sie. »Ohne Landtitel ist es de facto unmöglich, das Areal, das wir bewohnen, vor Gericht gegen den Zugriff von Agrargesellschaften oder Bergbauunternehmen zu verteidigen.«

Ein Hafen für den Raubbau

Längst dringen Sojabauern in Regenwaldgebiete vor, roden Wälder und legen neue Anbauflächen an. Doch auch Bergbaukonzerne wie der Aluminiumriese Alcoa haben die Amazonasregion ins Visier genommen. Der US-Konzern ist in Brasilien an drei Standorten vertreten. Die Kleinstadt Juruti mit ihrem Hafen, über den Bauxit aus einer Alcoa-Mine verladen und über den Amazonas abtransportiert wird, liegt nur rund 350 Kilometer flussaufwärts.

»Wir wissen, dass Alcoa in mehreren Gemeinden um Aninduba Bodenproben genommen hat. Es laufen Anträge, um auch hier Proben zu nehmen. Dagegen protestieren wir«, erklärt dos Santos. Gemeindevertreter Joaci Silva de Souza, der einen Stand weiter Bienenhonig anbietet, nickt zustimmend. Er hat das Amt des Gemeindevertreters von der Gewerkschafterin übernommen. Beide befürchten, dass Alcoa – die weltweit drittgrößte Aluminiumproduzentin – bereits eine Konzession zur Bauxitförderung beantragt hat. »Das wissen wir nicht, denn die Behörden arbeiten wenig transparent. Wir werden schlicht nicht informiert, zumal wir keinen offiziellen Landtitel haben«, klagt Joaci Silva de Souza.

Daher ist die Gemeinde auf Informationen von Umweltorganisationen wie Greenpeace oder der katholischen Landpastoralen angewiesen, die zahlreiche Gemeinden beraten und teils auch rechtlich vertreten. Das frustriert de Souza. Er verweist auf das Beispiel der Auktion von Förderlizenzen in der Amazonasmündung sowie im Amazonas-Hinterland, die die Regierung im Juni dieses Jahres veranstaltete. »Die Regierung setzt auf die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen – trotz aller Kritik an dem Vorgehen durch Umweltministerin Marina Silva«, sagt de Souza.

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Wer dieses Vorgehen und die Akteure, die davon profitieren, kritisiert, lebt in Brasilien gefährlich. Erst im März konnte sich Maria Ivete Bastos dos Santos nur durch einen beherzten Sprung vor einem heranrasenden Auto im Stadtverkehr von Santarém retten. Die Polizei bot ihr daraufhin Schutz an – doch sie lehnte ab.

Auch Alessandra Korap und andere indigene Aktivist*innen aus dem Bundesstaat Pará kennen solche Situationen. »Mein Vertrauen in die staatlichen Ordnungskräfte ist nicht besonders groß«, meint Ronaldo Amanayé von der Föderation der indigenen Völker von Pará (Fepipa). »Ich sorge lieber selbst für meine Sicherheit.« Es gebe zu viele Fälle, in denen Informationen von Sicherheitskräften an Sojabauern, Bergbauunternehmen oder Goldsucher weitergegeben worden seien, fügt er hinzu – leise, fast hinter vorgehaltener Hand.

Auch für ihn ist nach der Vorbereitungskonferenz klar: Er wird in Belém präsent sein und die Sichtweise der indigenen Gemeinschaften vertreten. Eine Alternative gibt es für ihn nicht – eine Einschätzung, die Maria Ivete Bastos dos Santos teilt. Sie baut ihren Verkaufsstand auf dem Markt vor dem Haupteingang der Uni ab. In einer Stunde legt die Fähre nach Aninduba ab. Dann geht es drei Stunden zurück in den Regenwald – wo der Kampf um Land und Zukunft längst begonnen hat.

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